Süddeutfdje Steinmadonnen um 1300
Mit vier Abbildungen auf zwei Tafeln Von HERMANN BEENKEN
1. Madonna am vierten nördlichen Mittelfd)iffpfeiler
von St. Lorenz in Nürnberg
Die fcßöne überlebensgroße Muttergottesfigur der Königsanbetung von St. Lorenz
ift älter als die ißr zugeordneten Könige, was man Graf Pückler-Limpurg1,
der vor 20 Jaßren die Nürnberger Plaftik um 1400 zu ordnen verfucßte,
folgend, lange überfeßen ßat. Sind die fpäteren Beifiguren als Arbeiten der fo-
genannten Gmündifcßen Bewegung um 1360 entftanden zu denken, fo geßört fie
woßl nocß in die lebten Jaßre des 13., fpäteftens in die erften des 14. Jaßr-
ßunderts2. Pückler-Limpurg glaubte, den ftiliftifcßen önterfcßieden innerhalb der Gruppe,
die aucß er faß, nicßt die entfcßeidende Bedeutung beimeffen zu braucßen, die
wir ißnen ßeute zuerkennen müffen. Selbft einen eigenen Meifter für die Madonna
anzuneßmen, weßrte er [icß, bewußte Differenzierung zwifcßen männlicßer Derbßeit und
weiblicßer 3artßeit der Formen durcß einen Künftler vorausfetjend. ßeute werden
woßl jedem kundigen Blick die ünterfcßiede, aucß als folcße des 3citftils — von den
ßandgreiflicßen des perfönlicßen Temperaments ganz abgefeßen — offenficßtlicß [ein.
Die Könige ßaben nicßts meßr vom dreizeßnten, die Madonna faft alles. Scßlank
und feingliedrig ift fie gewacßfen, alle Formen find ins Scßarfe und Feine ausgezogen,
ttlie fcßwer, ja plump find die Könige, wie grobfcßläcßtig-unbeweglich ißre maffiven ßände
gegen die gefpibte Fingerlebendigkeit der älteren Figur! Die Köpfe find Cßarakter-
masken von fefter Prägung, aus einer Summe rußender Einzelzüge befteßend. Im
Äntlib Mariae aber ift nicßts rußend, nicßts vereinzelt, alles draftifcße Äusdrucks-
bewegung bis ins Outrierte. (Hie die Äugen unter gefcßärften Brauenbögen blinzelnd
leucßten, die Mundwinkel in übertriebener Munterkeit ficß fpi&en, fo daß die Bäckcßen
empor getrieben werden, wie Kinn und ßals und wieder ßals und Scßultern faft ab-
fablos ineinander übergeßen, das alles ift in bewegender Variation einer plaftifcßen
Grundvorftellung geformt. Keine Einzelßeit ift bloß eingetragen, um ficß mit anderen
zu fummieren, fondern jede ift aus der mimifcßen Gefamtbewegung abgeleitet. Bis in
das Sicßfcßrauben und Sicßfpiben der Löckcßen fpürt man deren Cßarakter und Ein-
ßeit. So lebt nun aucß der ganze Körper intenfive plaftifcße Bewegung in alle Glieder
bis in die Fingerfpitjen ßinein. Das Gewand ift nur dünne Verfcßleierung, die etwa
um Brüfte und Ellenbogen leife Falten ßinwerfend fpielt und nur über dem Unter-
körper in raufcßenderen Geßängen ficß [taut. Aber aucß ßier find die Formen meffer-
fcßarf und rein in der 3ufpitjung, wo der Meifter der Könige fcßwerbeweglicße teigig-
wulftige Lagen gibt, die nirgends wie bei der Madonna in gemeinfame Spitjen
[tecßend-fcßarf ficß zufammenzießen.
Für früße Entfteßung fprecßen als äußere Merkmale der den Oberkörper frei-
laffende Hurf des Scßultermantels und die kurzen einzeln zufammengezäßlten Rund-
löckcßen des Kindes. Diefes ift faft eine Variante des Knaben, den die fcßon bald
nacß 1250 entftandene Madonna der Mainzer Fuftftraße trägt. Daß die Mainzer älter
ift, ift offenficßtlicß. Der früßgotifcßen Figur feßlt nocß ganz die Überfcßärfung des
mimifcßen Ausdrucks in Äntlitj und Gebärde. Das Geficßt ift nocß von klaffifcßer Ruße,
der Blick fucßt nicßt dem des Kindes zu begegnen. Aucß ift das Steßen nocß ein
ftatuarifcß gefeftigtes, wäßrend in Nürnberg das Spiel der Glieder ficß lockert und an
Stelle der vertikalen Standacßfe die gotifcße S-Scßwingung zu treten beginnt, die aucß
1 Graf Pückler-Limpurg: Die Nürnberger Bildnerkunft... Straßburg 1904, S. 23.
2 J. JBier (Nürnberg ifcb-Fränkifcße Bildnerkunft, 1922, S. 12) trennt fie zwar ausdrücklich von
den Königen, wagt fie aber nicht über die Zeit um 1350 hinaufzudatieren.
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Mit vier Abbildungen auf zwei Tafeln Von HERMANN BEENKEN
1. Madonna am vierten nördlichen Mittelfd)iffpfeiler
von St. Lorenz in Nürnberg
Die fcßöne überlebensgroße Muttergottesfigur der Königsanbetung von St. Lorenz
ift älter als die ißr zugeordneten Könige, was man Graf Pückler-Limpurg1,
der vor 20 Jaßren die Nürnberger Plaftik um 1400 zu ordnen verfucßte,
folgend, lange überfeßen ßat. Sind die fpäteren Beifiguren als Arbeiten der fo-
genannten Gmündifcßen Bewegung um 1360 entftanden zu denken, fo geßört fie
woßl nocß in die lebten Jaßre des 13., fpäteftens in die erften des 14. Jaßr-
ßunderts2. Pückler-Limpurg glaubte, den ftiliftifcßen önterfcßieden innerhalb der Gruppe,
die aucß er faß, nicßt die entfcßeidende Bedeutung beimeffen zu braucßen, die
wir ißnen ßeute zuerkennen müffen. Selbft einen eigenen Meifter für die Madonna
anzuneßmen, weßrte er [icß, bewußte Differenzierung zwifcßen männlicßer Derbßeit und
weiblicßer 3artßeit der Formen durcß einen Künftler vorausfetjend. ßeute werden
woßl jedem kundigen Blick die ünterfcßiede, aucß als folcße des 3citftils — von den
ßandgreiflicßen des perfönlicßen Temperaments ganz abgefeßen — offenficßtlicß [ein.
Die Könige ßaben nicßts meßr vom dreizeßnten, die Madonna faft alles. Scßlank
und feingliedrig ift fie gewacßfen, alle Formen find ins Scßarfe und Feine ausgezogen,
ttlie fcßwer, ja plump find die Könige, wie grobfcßläcßtig-unbeweglich ißre maffiven ßände
gegen die gefpibte Fingerlebendigkeit der älteren Figur! Die Köpfe find Cßarakter-
masken von fefter Prägung, aus einer Summe rußender Einzelzüge befteßend. Im
Äntlib Mariae aber ift nicßts rußend, nicßts vereinzelt, alles draftifcße Äusdrucks-
bewegung bis ins Outrierte. (Hie die Äugen unter gefcßärften Brauenbögen blinzelnd
leucßten, die Mundwinkel in übertriebener Munterkeit ficß fpi&en, fo daß die Bäckcßen
empor getrieben werden, wie Kinn und ßals und wieder ßals und Scßultern faft ab-
fablos ineinander übergeßen, das alles ift in bewegender Variation einer plaftifcßen
Grundvorftellung geformt. Keine Einzelßeit ift bloß eingetragen, um ficß mit anderen
zu fummieren, fondern jede ift aus der mimifcßen Gefamtbewegung abgeleitet. Bis in
das Sicßfcßrauben und Sicßfpiben der Löckcßen fpürt man deren Cßarakter und Ein-
ßeit. So lebt nun aucß der ganze Körper intenfive plaftifcße Bewegung in alle Glieder
bis in die Fingerfpitjen ßinein. Das Gewand ift nur dünne Verfcßleierung, die etwa
um Brüfte und Ellenbogen leife Falten ßinwerfend fpielt und nur über dem Unter-
körper in raufcßenderen Geßängen ficß [taut. Aber aucß ßier find die Formen meffer-
fcßarf und rein in der 3ufpitjung, wo der Meifter der Könige fcßwerbeweglicße teigig-
wulftige Lagen gibt, die nirgends wie bei der Madonna in gemeinfame Spitjen
[tecßend-fcßarf ficß zufammenzießen.
Für früße Entfteßung fprecßen als äußere Merkmale der den Oberkörper frei-
laffende Hurf des Scßultermantels und die kurzen einzeln zufammengezäßlten Rund-
löckcßen des Kindes. Diefes ift faft eine Variante des Knaben, den die fcßon bald
nacß 1250 entftandene Madonna der Mainzer Fuftftraße trägt. Daß die Mainzer älter
ift, ift offenficßtlicß. Der früßgotifcßen Figur feßlt nocß ganz die Überfcßärfung des
mimifcßen Ausdrucks in Äntlitj und Gebärde. Das Geficßt ift nocß von klaffifcßer Ruße,
der Blick fucßt nicßt dem des Kindes zu begegnen. Aucß ift das Steßen nocß ein
ftatuarifcß gefeftigtes, wäßrend in Nürnberg das Spiel der Glieder ficß lockert und an
Stelle der vertikalen Standacßfe die gotifcße S-Scßwingung zu treten beginnt, die aucß
1 Graf Pückler-Limpurg: Die Nürnberger Bildnerkunft... Straßburg 1904, S. 23.
2 J. JBier (Nürnberg ifcb-Fränkifcße Bildnerkunft, 1922, S. 12) trennt fie zwar ausdrücklich von
den Königen, wagt fie aber nicht über die Zeit um 1350 hinaufzudatieren.
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