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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

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Grohmann, Will; Kandinsky, Wassily [Gefeierte Pers.]: Wassily Kandinsky
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#0924
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abftrakten Bildern Kandinfkys keinerlei Gegenftandsbeziehung und die Freiheit der
Linie, der Fläche, der Farbe i[t für uns f)eute zwar nicht unzugänglich), aber mit ihrem
unmittelbaren Äppell an unfere feelifche Aktivität doch) noch) mehr als ein äftt>etifd)es
Problem. Es gel)t den meiften auch jetjt noch) fo, daß fie wie der Durcßfchjnitt der
Konzertbefuchjer eine momentane Befcßwingtßeit verzeichnen und fcßon nach einer
Stunde ratlos find, wenn fie darüber Recßenfcßaft geben füllen. Rias Kandinfkg
gerade will, die Ordnung, die Freiheit vom 3ufaU. die ja auch in einer Fuge oder
Sonate ift, wird in der Nachwirkung verdrängt durch ein Chaos von Erinnerungs-
zufällen. Die Farbe hat noch den längften Beftand und manche glauben, dies fei es
überhaupt: Einfd)melzen der Hielt in der Farbe, HIeglaffen des ganzen gegenftändlicßen
Eßeaters zugunften einer unbedingten Ausfpradje in Farben. Der 3ufammenklang der
Farben wird am ficßerften aufgenommen und in feinem HIert kontrolliert. Auch ohne
im einzelnen die fymbolifd)e Bedeutung zu kennen, die Kandinfkg jeder Nuance zu-
fchreibt, ift uns beinahe ohne weiteres klar, warum ein Bild „Schwarzer Rand“, „Roter
Fleck“, „HIeißer 3ickzack“, „Offenes Grün“ heißt- Der Sinn farbiger 3ufammenl)änge
hatte ftets fchjon, auch losgelöft von den Gegenftänden, eine Geltung und es fiel
farbenempfindlichen Menfcßen nie fcßwer, einen Memling etwa auch einmal rein als
farbiges Phänomen zu erleben. Kandinfkg komponiert nur ausfchließlich) darauf hin,
fo und nicht anders fehen zu laffen und tut dies unter 3ahüfenahme der ausdrucks-
vollen Form. Daß die Hlirkung der Farbe nicht nur von dem Vorhandenfein anderer
Farben, fondern gleichzeitig von ihrer Umgrenzung und der Linienftruktur der Um-
gebung abhängt, daß andererfeits die Form durch das Koloriftifche bedingt wird, dies
Hüffen ift die Vorausfetjung für den gefeßmäßigen Aufbau eines folcßen Bildes. Nur
ift die 3ahl der Kombinationsmöglichkeiten dabei fo groß, daß die Gefe^mäßigkeit fid)
nie wiederholt und wir fie deshalb kaum fpüren. Immerhin, eine fo oder fo ver-
laufende Linie hat auch fonft eine Bedeutung. Eine Sinuskurve z. B. ift eine Ge-
krümmte, deren Sinn für den Mathematiker ohne weiteres ablesbar und in einer Formel
mitteilbar ift, und die er, wo fie in der Natur vorkommt, fofort wieder erkennt. Nicht
anders ift es mit dem Dreieck, dem Viereck, dem Kreis, der Durchfchneidung zweier
oder mehrerer Geraden, ihrer Beziehung zur Gekrümmten, der Umfchließung eines
Formenenfembles durch eine größere Form. Kandinfkg hat einmal wochenlang ein
Bild nicßt zu Ende malen können und die Löfung erft dann gefunden, als ihm ein
weißer Rand als Umfaffung eingefallen war. Hlir fteßen vor diefen Bildern, wifferi
um ihre Entftehung und rechnen doch nicht nach- Die Einfühlung, die HIertung wird
allmählich durch die langfam fleh entwickelnde Kultur des rein malerifchen Sehens von
felbft kommen oder gar nicht. Gegen alles Verftandesmäßige in der Kunft lehnen wir
uns aus Inftinkt auf. Kandinfkg hält das zwar für ein Vorurteil. Die viel gefürchtete
Gehirnarbeit in der Kunft fei nicht gefährlich, nicht mal ihr Übergewicht über den in-
tuitiven Ceil des Schaffens. Das Unbewußte fei bei uns noch zu groß. In weiter 3n-
kunft werde das Kunftwerk vielleicht durch Errechnung gefchaffen. Er felbft fei noch
nicht fo weit und feßaffe die Formen gefühlsmäßig; fie kämen von felbft zu ißm oder
fie bildeten fid) im Verlaufe glücklicher Arbeitsftunden. Aber er habe begriffen, daß
Selbftkontrolle und Selbftkritik nötig fei, um große Arbeiten zu feßaffen, die eine tage-
lange gleichmäßige Spannung erforderten. Der Betrachter nimmt die Formen durch
das Gefühl auf, empfindet das Ganze des Bildes als eine künftlerifche und zugleich
menfd)lich belangvolle Angelegenheit. Set^t er es zu dem ihm angeborenen Umkreis
der HIerte in Beziehung, ift es ein Fenfter in die Hielt abfoluter Geltung, gibt diefe
Vorftellungswelt Auffct)luß über 3afaftinienhänge, die noch vor uns liegen? Jeder kann
diefe Fragen vorläufig nur von fid) aus beantworten. Vor unfarbigen Reproduktionen
wird man fchwerlidt) eine Antwort finden, vor den Originalen aber will es mir fcheinen,
als fei hier eine Sprache entftanden, die ohne 3uhüfenahme irgendwelcher äußeren
Mittel das geiftige Leben eines Menfcßen in einer Art Gel)eimfd)rift enthielte. Bei Kan-

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