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Cohn-Wiener, Ernst [Mitarb.]
Braunschweig, Hildesheim und der Harz: 110 Abbildungen nach Naturaufnahmen — Berlin: Verlag für Kunstwissenschaft, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.56736#0013
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Geheimnisvolle Beziehungen verknüpfen den Boden eines Landes mit seinen Bewohnern und
werden, mehr gefühlt als gewußt, in leise von Mund zu Mund gehenden Sagen zu Gestalten
geformt. Erde, Wald und Wasser wird dem Menschen Freund und Feind, wird Gnom, Dryade
und Nixe. Kargheit und Überfluß des Ackers oder Bergstollens sind Gaben eines lebenden Natur-
willens, mit dem man verkehrt, wie mit anderen Lebenden.
Das Gebiet des Harzes und der Ebene zu seinen Füßen bekommt Leben und Kolorit durch
diese Sagen, wie ein dunkler Seidenstoff, golddurchwebt zu leuchtendem Brokat wird. Kaum ein
Landesteil Deutschlands, wo sie so üppig der Volksphantasie entsprossen sind, wie hier, kaum einer,
wo die Zwerge so eng mit den Bewohnern verkehren, so nahen Zusammenhang des Volkes mit der
Scholle, auf der es wohnt, anzeigen. Der tiefe Eindruck, den eine Wanderung durch das nordsächsische
Land hinterläßt, beruht allein auf dieser Wechselwirkung zwischen ihm und dem Charakter seiner Be-
wohner. Nicht die heitere Offenheit eines fruchtbaren Hügellandes, wie in Thüringen, nicht das berg-
umschlossene Band eines breiten Flußes, wie im Rheinland, nicht die schnelle Abfolge von Berg und
Tal, wie im Elsaß, ziehen hier den Blick an. Was hier interessiert ist die Arbeit des Menschen, die
aus dem Ernst des Landes und dem Ernst seiner Bewohner eine Gestaltenwelt von charaktervoller
Harmonie schafft. Ein hartes, selbstsicheres Volk wohnt hier. Es sind die Nachkommen jener Sachsen,
die erst durch unerhört blutige Kriege dem siegreichen Kreuz unterworfen wurden, und die, durch
grausame Heimtücke fast aller ihrer Edelinge beraubt, immer noch stark genug waren, das Erbe ihrer
Unterwerfer anzutreten und nach dem Aussterben der Karolinger dem deutschen Reich seine Kaiser
zu geben. Diese selbstsichere Stärke gibt dem Land seinen Charakter. Was hier geschaffen wurde,
ist von einer inneren Kraft, die bis zur Härte, bis zur abweisenden Verschlossenheit geht.
Dem Sachsen hatte nicht, wie dem Bewohner der Rheinufer der Handel oder gar schon der
Römer frühe reiche Städte gebaut. Hier, wo der Kern des Landes aus Bauern besteht, bilden sich
die Städte spät, und nidnt um den gastlichen Markt, sondern um froßige Burgen und ernste Dome,
ja, in Quedlinburg und Braunschweig ist beides ein Organismus, liegt der Dom eingeschlossen in
die Mauern des Burgberings. Denn Dom wie Veste sind Zwingburgen, um die Macht der Kirche und
die Macht des Kaisers in diesem eroberten Lande zu erhalten.
Die Gründungssage von Hildesheim erzählt in sinnreichem Bilde dasselbe. Ludwig der Fromme
und sein Kaplan wären, von der Jagd ermüdet, auf dem Hügel von Hildesheim eingeschlafen. Als
sie am Morgen erwachten und Gottesdienst halten wollten, fehlte das zur Messe mitgenommene Reli-
quienbehältnis, das diesmal Reliquien der heiligen Jungfrau enthalten hatte. Man fand es schließlich
verstrickt in die Zweige eines wilden Rosenstrauches. Die der germanischen Göttermutter Fricke heilige
Pflanze hatte das Reliquiar über Nacht mit ihren Zweigen umwuchert und so gleichsam das Anrecht
auf diesen Plaß der jungfräulichen Mutter Christi übertragen.
Die Energie, mit der dieses Land vom Christentum kolonisiert wurde, ist ganz erstaunlich. Rings
um den steilen Nordabhang des Harzes lagerte sich jeßt ein Kranz von Burgen und Klöstern. Es
gibt kein anderes Gebiet Deutschlands, in dem der Eindruck der frühmittelalterlichen Kultur in so
kraftvoller Reinheit vor Augen liegt. Daß man diese Kunst die „romanische“ nennt, ist innerlich un-
berechtigt. Selten ist deutsche Kraft so zum Ausdruck gekommen, wie gerade damals. Die edelste
dieser Anlagen war wohl einmal Dom und Schloß zu Goslar. Unmittelbar über der Stadt auf an-
steigendem Felsen gelegen, war sie „der herrlichste Königssiß im Reiche“, wie ein alter Chronist sagt.
Allein vom Dom steht nur noch die mit ernsten Statuen geschmückte Vorhalle, vom Schloß die Doppel-

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