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Cohn-Wiener, Ernst; Jaeckel, Willy [Hrsg.]
Willy Jaeckel — Leipzig: Klinkhardt & Biermann, 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.53066#0011
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W:ir leben zwischen den Zeiten, fristen uns zwischen Zer-
störung und Wiedergeburt. Wir sind wie die Spätrömer,
die, noch berauscht vom Gastmahl des Trimalchio und das
ironische Spötteln Lukians auf der Zunge, mit all ihren Ge-
danken nach einem Gott rufen, der sie erlöse. Noch erfüllt
er sich uns nicht. Denn wir haben nicht — noch nicht — den
ruhig starken Glauben einfacher Zeitalter, die ihre Gottheit
selbstverständlich wie eine Tatsache übersieh walten lassen,
sie anbeten, sie mit Gebet und Opfern ernähren. Wir müssen
sie aus unserer Sehnsucht wieder auferstehenlassen, nachdem
kalter Rationalismus sie zum andern Mal gekreuzigt hatte.
Es ist kein Zufall, daß der Künstler diese Sehnsucht stärker
erlebt, als jeder andere unter uns. Der Nicht-Künstler tut,
erwirbt, denkt. Der Verstand ist seine tätigste Geistes-
funktion — Empfinden ist eine Delikatesse, die er sich nur
an Festtagen leistet. Der Künstler hat solchen Festtag sein
Leben lang, und das Gefühl wirkt jede seiner Taten. Ge-
fühle zur Form gestalten heißt eben: Künstler sein, Kunst
schaffen heißt: Sehnsucht zur Erfüllung bringen. Und so
zeugt der Künstler für seine Zeit aus seiner Sehnsucht nach
dem Unendlichen ihre Vorstellung von Gott. Heute wie einst.
Was man von Phidias sagte, daß er der Religion selbst neue
Gefühle gegeben habe, kann man auch von Raphaels Ma-
donnen, von Michelangelos weltschaffendem Gottvater sagen,
kann von jedem Künstler behaupten, daß seine religiösen
Visionen die Vorstellungen schaffen, die die Gemeinde sich
von ihrer Gottheit machen wird. In unserer Zeit, in der
aus allen Seelen Gefühle zu religiöser Erneuerung drängen,
heißt das, daß die Maler von heute im Begriff sind, die
Kunstformen für die Altäre der Zukunft zu schaffen, wie
ß
 
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