nie so still gemalt worden: die prophetischen Männer und Frauen des Michelangelo
an der Decke der Sixtinischen Kapelle.
Das zweite Problem des neuen Gestaltens stellt wie immer die Natur. Für die Landschafts-
Abb. 65
malerei bedeutet diese Einstellung auf das Gefühl die letzte Vergeistigung. Unser Wort bis 71
„Stimmung“ ist grob gegenüber den schweigenden Landschaften der großen Chinesen.
Ihr Naturgefühl sucht nicht die bloße Erscheinung, und unser Impressionismus mit
seinen Leuchtfarben würde ihnen roh erscheinen. Sie lieben den Nebel, aus dem lang-
sam die Linien der Gebirge sichtbar werden, lieben den Mondschein in der Dämmerung.
Sie lieben den Fluß, mit dessen Wellen der Kahn still dahingleitet, lieben das Gebirge,
wenn der tiefe Schnee seine Kuppen umhüllt oder im Schmelzen eben das erste Grün
freigibt. Immer werden die Zeiten aufgesucht, in denen ein Werden das Gefühl still
sein läßt, nie die Natur in gesättigter Kraft. Rauschen von Wasserfällen, der Klang
ferner Tempelglocken, rieselnde Bäche tönen leise mit. Daß zwei Bildformate, das
steil senkrechte und das lang wagerechte, Hochbild und Bildrolle, fast zum Gesetz
werden, ist kein Zufall. Für europäische Begriffe ist das eine überhoch, die andere
überlang. Aber nur so werden Bilder möglich, die im Verhältnis zur Welt mehr als
Ausschnitte sind. Das Hochbild umfaßt mit einem Blick Höhe und Tiefe, Schlucht
und Gipfel, ist ein starker Schnitt durch das Ganze der Welt. Die Bildrolle fordert
langsames Anschauen. Sie abzurollen heißt einen Weg, etwa den eines Flusses vom
Gebirge an Hügelland vorbei in die Ebene still zu durchwandern. Das Langbild ist
konzentriert, die Bildrolle ausgesponnen. Der Mensch lebt in diesen Landschaften
als ein Wesen, das ihre Zartheit genießt und verfeinert. Er ruht einsam am hohen
Felsenhang und blickt sinnend zu fernen Bergen, er gleitet im Boot im stillen Ge-
spräch mit einem Freunde zu fernen Ufern. Energie und Tat kennt diese Kunst nicht.
Eine tiefe Sehnsucht nach dem Unendlichen ist in ihr. Und ist nicht weniger in den
Bildern von Tier und Pflanze, die nie nur naturalistische Stilleben sind. Immer sind
sie Teil der großen Schöpfung, von der All-Liebe Buddhas durchseelt.
Daß diese Bilder der seelischen Haltung der Zeit mit solcher Feinfühligkeit folgen
können, daß sie alles auszudrücken vermögen, die Nähe wie die Ferne, Schimmer und
Trübheit, das Vergehende und das Ewige, ist nur möglich, weil ihre Künstler den
malerischen Stil zur letzten Empfindlichkeit erzogen haben. Auf uns wirken sie zu-
nächst skizzenhaft, impressionistisch. Ganz leichte Linienzüge und Flecke schwarzer
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an der Decke der Sixtinischen Kapelle.
Das zweite Problem des neuen Gestaltens stellt wie immer die Natur. Für die Landschafts-
Abb. 65
malerei bedeutet diese Einstellung auf das Gefühl die letzte Vergeistigung. Unser Wort bis 71
„Stimmung“ ist grob gegenüber den schweigenden Landschaften der großen Chinesen.
Ihr Naturgefühl sucht nicht die bloße Erscheinung, und unser Impressionismus mit
seinen Leuchtfarben würde ihnen roh erscheinen. Sie lieben den Nebel, aus dem lang-
sam die Linien der Gebirge sichtbar werden, lieben den Mondschein in der Dämmerung.
Sie lieben den Fluß, mit dessen Wellen der Kahn still dahingleitet, lieben das Gebirge,
wenn der tiefe Schnee seine Kuppen umhüllt oder im Schmelzen eben das erste Grün
freigibt. Immer werden die Zeiten aufgesucht, in denen ein Werden das Gefühl still
sein läßt, nie die Natur in gesättigter Kraft. Rauschen von Wasserfällen, der Klang
ferner Tempelglocken, rieselnde Bäche tönen leise mit. Daß zwei Bildformate, das
steil senkrechte und das lang wagerechte, Hochbild und Bildrolle, fast zum Gesetz
werden, ist kein Zufall. Für europäische Begriffe ist das eine überhoch, die andere
überlang. Aber nur so werden Bilder möglich, die im Verhältnis zur Welt mehr als
Ausschnitte sind. Das Hochbild umfaßt mit einem Blick Höhe und Tiefe, Schlucht
und Gipfel, ist ein starker Schnitt durch das Ganze der Welt. Die Bildrolle fordert
langsames Anschauen. Sie abzurollen heißt einen Weg, etwa den eines Flusses vom
Gebirge an Hügelland vorbei in die Ebene still zu durchwandern. Das Langbild ist
konzentriert, die Bildrolle ausgesponnen. Der Mensch lebt in diesen Landschaften
als ein Wesen, das ihre Zartheit genießt und verfeinert. Er ruht einsam am hohen
Felsenhang und blickt sinnend zu fernen Bergen, er gleitet im Boot im stillen Ge-
spräch mit einem Freunde zu fernen Ufern. Energie und Tat kennt diese Kunst nicht.
Eine tiefe Sehnsucht nach dem Unendlichen ist in ihr. Und ist nicht weniger in den
Bildern von Tier und Pflanze, die nie nur naturalistische Stilleben sind. Immer sind
sie Teil der großen Schöpfung, von der All-Liebe Buddhas durchseelt.
Daß diese Bilder der seelischen Haltung der Zeit mit solcher Feinfühligkeit folgen
können, daß sie alles auszudrücken vermögen, die Nähe wie die Ferne, Schimmer und
Trübheit, das Vergehende und das Ewige, ist nur möglich, weil ihre Künstler den
malerischen Stil zur letzten Empfindlichkeit erzogen haben. Auf uns wirken sie zu-
nächst skizzenhaft, impressionistisch. Ganz leichte Linienzüge und Flecke schwarzer
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