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Cohn-Wiener, Ernst
Die jüdische Kunst: ihre Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart — Berlin: Wasservogel, 1929

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https://doi.org/10.11588/diglit.53034#0238
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DER WEG ZUM HEUTE.

Mit einem Male wachen in Israel zahllos die künstlerischen Bega-
bungen auf. Es ist wie ein Stürmen gegen alle Schranken. In ununter-
brochener Reihe folgen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die jüdischen
Namen aufeinander, die die Kunstgeschichte nennt, große Namen unter
ihnen, Bahnbrecher, neben denen die Mitläufer nicht fehlen. Die Zahl
der jüdischen Künstler ist verhältnismäßig außerordentlich hoch. Jetzt
erst zeigt sich, daß Israel für die große Kunst in all ihrer Freiheit genau
so begabt ist, wie irgendein anderes Volk, daß es nur äußere Gründe
waren, die es bisher nicht hatten zur Entfaltung kommen lassen. Jetzt,
wo die jüdischen Künstler aus dem Ghetto und der Gemeinde in die
Welt eintreten, in den großen Wettbewerb um die allgemeine Geltung,
hatten sie die Probe auf ihren Wert abzulegen. Und sie haben sie bestanden.
Kampflos wurde das Recht auf diese Leistung nicht erworben, so wenig
wie irgendein anderes. Aber seit Voltaire und Lessing geht der Kampf
wenigstens nicht mehr um das Recht auf die nackte Existenz. Sem Ziel
ist zuerst, Mensch unter Menschen, und später, Volk unter Völkern zu
sein. Schon die ersten Schritte waren mehr eine Folge der beginnenden
sozialen Erkenntnis als der bloßen Humanität. Sobald die Welt begriff,
daß es nicht verschiedene Klassen von Menschen gab, adlige und bürger-
liche, die von Geburt her verschiedene Rechte hatten, konnte man auch
den Juden nicht mehr als Angehörigen einer niedrigen Kaste betrachten,
und es hätte schlecht zusammengepaßt, für Negeremanzipation einzu-
treten und in Europa selbst Ausnahmegesetze für Angehörige einer weißen
Rasse zu dulden. Der Weg von der Einsicht bis zur Durchführung ist
trotzdem sehr lang gewesen. Er ist, wenn man die Wahrheit sagen soll,
immer noch nicht am Ziel.

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