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Chronik für vervielfältigende Kunst — 1.1888

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https://doi.org/10.11588/diglit.3767#0083
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Marcantonio's Geburtsjahr um 1475 salle, da er im Jahre 1504 bereits als
tüchtiger Künstler im Viridario des Alessandro Achillini1 genannt wird.
Delaborde möchte das Geburtsjahr Marcantonio's um 1488 annehmen
(p. 4.), er Tagt sich damit also von der damals allgemein angenommenen
Muthmassung Ottley's los. Da nun aber Delaborde's Annahme sich aus
Gründe fiützt, die nicht absolut stichhaltig genannt werden können, so
bleibt man auch nach der Veröffentlichung des vorliegenden Werkes
über das Geburtsjahr Raimondi's immer noch in Ungewissheit.
Was das Todesjahr anbetrifst, von dem der Verfasser auf Seite 60
spricht, so möchte ich erwähnen, dass Fuga zu der Annahme neigt, Rai-
mondi sei 1520 gestorben. Lanzi vermuthet 1527 oder bald nachher, da
Marcantonio die letzten Werke Rafsael's nicht mehr slach. Malpe dagegen
hält 1539 sür das Todesjahr, Longhi 1546, Malaspina 1550, indesfen
wollen alle genannten Autoren ihre Behauptungen nicht als unum-
slössliche hinstellen. Delaborde bemerkt, Marcantonio könne m ögli ch er-
weise um das Jahr 1527 (p. 60) gestorben sein, sicher sei es indessen
nur, dass Marcantonio 1534 nicht mehr lebte. Und diese Annahme hat
viel Wahrscheinliches sür sich. Der Autor siützt sich bei vorstehender Be-
hauptung aus einen Satz Pietro Aretino's in der „Cortigiana", einer
Komödie, die im genannten Jahre gedruckt wurde „in Venedig durch
Messer Gio Antonio de' Niccolini da Sabio".- Auf denselben Ausspruch
nehmen andere Autoren Bezug, unter Anderen Pasfavant im ,,Peintre
Graveur",3 wie das auch unser Autor andeutet. Wir wollen jetzt zu
den ersten Seiten, d. h. zu der Herkunft Marcantonio's, zurückkehren.
Vasari nennt den Marcantonio einen Bolognesen, und zwar aus
Bologna selbst, dasselbe thuen Malvasia und Lanzi. Wurde Raimondi
wirklich in Bologna geboren? Meine Leser wissen es, Marcantonio wurde
in der Nähe von Bologna geboren; so bestätigt es auch der Verfasser. Er
zeigt uns dann den Raimondi im Studio des Francia und über Francia
(p. 8) sällt Delaborde ein äussersl richtiges, strenges Urtheil. Im Allge-
meinen ist Francia als Maler zu viel gelobt worden; die Bologneser
Schule, die man als die Schule Francia's bezeichnete, wäre ohne Mit-
wirkung der talentvollen serraresischen Künstler Francesco del Cossa,
Ercole Roberti, und besonders ohne Lorenzo Cosla, niemals zu dem
hohen Ruhm gelangt, der ihr jetzt wohlverdientermassen zur Ehre ge-
reicht. Delaborde spricht das eben Gesagte zwar nicht direcl aus, doch
kann man gleichwohl nach seinen Worten zu diesem Schlusse gelangen.
Was lernte Raimondi von Francia? Gehörte er zur Maler-Schule
oder zu derjenigen der Goldschmiedekunst?4 Er gehörte letzterer an,
„et de bonne heure entremela ses traveaux d'orsevre et de niellatore
de travaux de gravure proprement dite et bientöt ceux-ci l'occuperent
exclusivement" (p. 8).
Der Versasser berichtet weiter, dass Marcantonio zuersl Stiche
nach Originalzeichnungen seines Lehrers oder seiner Mitschüler Giacomo
Francia und Timoteo della Vite ausführte. Damals trat Viti, der 1495
Francia's Schule verliess, zuersl in Berührung mit dem späteren Stecher der
Werke Raffael's. Und wer kann es beurtheilen, ob Viti, der raffaelitisch
vor Raffael war, nicht vielleicht der Erste gewesen ist, der in Raimondi das
Verständnis sür jene Kunst voller Anmuth und Zartheit wachrief, die den
erhabenen Maler der Stanzen kennzeichnet? Es wäre zu wünsehen ge-
wesen, dass Delaborde Studien darüber gemacht hätte, welcher Art die
Beziehungen zwischen della Vite und Marcantonio gewesen sind, da Viti's
Einfluss auf Raffael heutzutage von den strengslen Kritikern zugestan-
den wird.5
Indem unser Verfasser auf die Studien zu sprechen kommt, die
Raimondi nach Dürer gemacht, sagt er, dass Marcantonio dabei zuerst
zaghaft und unsicher gewesen sei (p. 13), sie dann aber so ausdauernd
1 El Viridario sol CLXXXVIII verso.
3 Zur Bequemlichkeit für den Leser bemerke ich, dass die Stelle, aus die
Delaborde anspielt, sich in der 7. Scene des 3. Actes in der Ausgabe ohneOrtsangabe
aus dem Jahre MDXXXIV befindet.
1 T. VI, p. 8.
* Es ist bekannt dass Francia's Studio zu Bologna sich in zwei Stockwer-
ken befand; im oberen wurden Bilder unter Leitung Costa's gemalt, im unteren
die Goldschmiedekunst unter Leitung Francia's betrieben.
5 Der Autor ist zu der Annahme geneigt, dass Raimondi dem Raffael durch
Viti vorgestellt wurde (p. 26).

und gründlich weiter betrieb, dass er die Manier Dürers schliesslich täu-
schend genau nachahmte (p. 14).
Das bezieht sich, wie bekannt, auf einige Dürer-Stiche, diePassion
darstellend, sür welche, nach Vasari, Dürer die Gerechtigkeit des hohen
Rathes zu Venedig Raimondi gegenüber anries.
Dieser Punkt im Leben Marcantonio's wird nicht von Allen in
gleicher Weise aufgesasst; mag man immerhin die Behauptungen Dela-
borde's, der sich aus Vasari siützt, sür einleuchtend halten, so muss ich in
dieser Angelegenheit doch bei meinem bisherigen Zweifel verharren.
Nach dem oben Erwähnten führt Delaborde seinen Lesern: „Marc-
AntoineäRome, sous l'influence deRaphael" vor, und behauptet
sehr richtig „que, si Marc-Antoine a du beaueoup ä Raphael, Raphael de
son cote ne pouvait que gagner a rencontrer un confident aussi sür, un
interprete aussi eloquent de ses pensees etc." (p. 23 — 24).
Etwas Neues wird in diesem Capitel nicht festgestellt, aber die
bekannten Thatsachen werden geordnet und lebhaft von allen Seiten
beleuchtet. Was Baviera anbetrifft, der die Stiche Marcantonio's verviel-
sältigte und herausgab, so weist Delaborde dessen Bologneser Abdäm-
mung nach, und zwar aus Documenten, die ersl vor kurzem von Berto-
lotti veröffentlicht wurden,1 und macht damit die Annahme hinfällig,
nach welcher Parma als Geburtsort Baviera's genannt wurde.
Ich beabsichtige weder dem Autor Schritt für Schritt durch diesen
Theil seines Werkes zu folgen, noch dort, wo er von Marcantonio nach
dem Tode Raffael's spricht. Doch möchte ich mit besonderer Freude die
Unparteilichkeit und Klarheit des Verfassers hervorheben. Wo Marc-
antonio irrte, verurtheilt ihn Delaborde ohne Mitleid und ohne Gnade.
Es macht einen wundersamen Eindruck, wenn man sieht, wie zwei
Künstler, denen Raffael unendlich wohlwollend gegenübergestanden, und
die in seiner Schule ausgewachsen waren, sich dem Laster in die Arme
werfen und Werke osfenbarer Verderbtheit aussühren! Fast wird man zu
glauben veranlasst, dass das Laster zu jener Zeit mit der Lust eingeathmet
werden musste. Es war ja damals in Rom wie ein neues Ausblühen
jenes schlüpfrigen, sinnlichen Heidenthums, von dem Taine äusserst an-
schaulich in einem in Italien allgemein bekannten Bande - spricht.
Aus weichen Gründen immer es auch geschehen sein mag, ob als
wissendes oder unwissendes Opfer der ihn umgebenden Lebensatmo-
sphäre, genug, Marcantonio besleckte sein Leben durch einen der aller-
unwürdigslenFehltritte, den Delaborde, — ich wiederhole es, — mitklarer
Unparteilichkeit darslellt.
Selbslversländlich spricht Delaborde auch von den Schülern Marc-
antonio's (p. 66) und vor Allem von Agostino Veneziano aus der Familie
Musi oder de Musis. Wann dieser geboren wurde und in welchem Jahre
er slarb, erwähnt indessen der Autor nicht, und wir wissen folglich
darüber nicht mehr als bisher. Delaborde nennt ferner Marco Dente da
Ravenna, Maeslro del Dado (Maitre au De — p. 69), Giacomo Caraglio,
und unter den Ausländern erwähnt er Georg Pencz und Bartel Beham,
welche, wie der Verfasser sagt, den Generalstab unter den Schülern
Marcantonio's bilden.
Mit ganz besonders scharfer Beobachtungsgabe schildert, wie es
mir scheint, der Autor den eigenartigen Charakter von Raimondi's Talent,
über den ein besonderes Capitel handelt.
In gewissen Vergleichen, die Delaborde zwischen Marcantonio,
Albrecht Dürer, Lucas van Leiden und Rembrandt anstellt, sinde ich ihn
äusserst geistvoll. Auch gibt er hier einen weiteren Beweis seiner Unpar-
teilichkeit, indem er, die grösste Wichtigkeit Raimondi's sür die Entwick-
lung der Stechkunst in Italien im XV. und XVI. Jahrhundert voll
betonend, ihn doch weder übertrieben hochhebt, noch seinen Einfluss
etwa zu gering ansehlägt, zum Nachtheil oder zu Gunsten jener Stecher,
die, wenngleich von geringerem Ruf als Raimondi, doch auch ihrerseits
zur grösseren Entfaltung der hohen Kunst bei uns mitwirkten (p. 80 — 81).
Hiemit endet der erste Theil der Arbeit Delaborde's, die Biogra-
phie, und es beginnt das erläuternde Verzeichnis des Werke, das
durchaus nicht etwa nur eine Wiederholung der bisher bekannten
Zusammenstellungen ist. Die Leser werden wissen, dass Heineken in
1 Bologna 1885.
3 Philosophie de l'Art en Italie. Paris 1S7G.
 
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