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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Noack, Klaus-Peter: Die Wirklichkeit des Virtuellen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0159
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ein positiver phänomenaler Charakter von
Hard- und Software, nämlich deren Unauf-
fälligkeit, Unaufdringlichkeit und Unauf-
sässigkeit (vgl. Heidegger, S. 75).
Ausgerechnet das allerneuste Schlagwort in
der Diskussion über Designthemen dient bei
Nelson also dazu, eines der ältesten Design-
themen zu umschreiben: den Kampf gegen
die Tücke des Objekts. Freilich erhalten ergo-
nomische Fragen im Zusammenhang von
Hard- und Softwaredesign für Computer tat-
sächlich eine neue Bedeutsamkeit.

Der inzwischen inflationäre Gebrauch von
„virtuell" und „Virtualität" zwingt zu der
Feststellung, daß sich die Verwendung dieser
Ausdrücke von klaren ontologischen oder
gnoseologischen Wertigkeiten längst abge-
löst hat. Es kann sich um lllusionsmaschinen
zur Erzeugung von rein fiktiven Nintendo-
Welten handeln, ebenso aber um sehr präzi-
se nachgebildete Modellwelten für wissen-
schaftliche und technische Forschungen, oder
um sehr genaue Abbilder von Ausschnitten
aktueller Abläufe. Hier haben wir es mit sehr
unterschiedlichen Problemen zu tun; ein
undifferenziertes Reden über DIE Virtualität
verbietet sich daher.

Ob, wann und wieweit z. B. für die verschie-
denen Anwendungen dieser Techniken die
Erzeugung von Echtheitsillusionen, das völli-
ge Eintauchen ins Bild usw. notwendig, ja, ob
sie überhaupt sinnvoll sind, das wäre empi-
risch differenziert abzuklären.

Inzwischen belegten auch das weitverbreite-
te Sprechen von „virtuellen Gemeinschaften",
„virtuellen Büros" usw., daß man sich mit „vir-
tuell" häufig einfach darauf bezieht, daß
bestimmte Interaktionen nur über die Nut-
zung von Computern und Leitungsnetzen
zustande kommen.

Der Ausdruck „virtuelle Realität" ist im Rah-
men derartiger Ausweitungen seiner Anwen-
dung zu einem technologischen und ergono-
mischen Ausdruck geworden, der nicht nur
den ursprünglich mit ihm verbundenen phi-
losophischen Inhalt, sondern jeglichen philo-
sophischen Inhalt verloren hat.

Aus designphilosophischer Sicht ist die inzwi-
schen eingetretene sprachliche Situation vor
allem deshalb bedenklich, weil in ihr der ur-

sprüngliche Virtualitätsbegriff leicht vollends
in Vergessenheit gerät. Dem können wir be-
gegnen z. B. in Anknüpfung an Henri
Lefebvres „Kritik des Alltagslebens" und dem
großartigen 4. Kapitel in Robert Musils
„Mann ohne Eigenschaften": „Wenn es Wirk-
lichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeits-
sinn geben"; von vielen Arbeiten der Post-
moderne des Widerstandes ganz zu schwei-
gen.

Die Wirklichkeit dieses Virtuellen zu betonen,
ist ein grundlegender Zug gegen die Verfe-
stigung des status quo, eine Herausforderung
und Ermutigung der Phantasie. Es betont das
Bestehen von 5p/e/-Räumen für unser Han-
deln und verteidigt so den geistigen Raum,
in dem wir immer wieder neu die alte Frage
von William Morris stellen können: „Wie wir
leben und wie wir leben könnten".

Es macht mobil gegen einen sich gerade jetzt
im Zusammenhang mit den elektronischen
Medien verbreitenden Fatalismus.

Am Ende von „Through the Looking-glass"
stellt Alice die auch für uns alles entscheiden-
de Frage, wer das wohl alles geträumt hat,
„who it was that dreamed it all. This is a
serious question ..." In derTat, versuchen wir
unsere Träume zu träumen.

IV Es handelt sich um eine gekürzte Fassung meines
Referates.

121 Eine ausführliche Rechtfertigung dieser ontologischen

Betrachtungsweise findet sich bei Roy Bhaskar

„A Realist Theorie of Science", Sussex und New Jersey 1978.

131 Nach Theodor Nelsons Überlegungen muß also John
Walkers Metapher „Trough the Looking-glass" aufgegeben
werden, wenn damit gemeint ist, es käme für die optimale
Interaktion darauf an, in der Maschine herumzuwandern.
Wie Nelson zeigt, bleibt der User im Normalfall an der Ober-
fläche. Er sollte nicht wie Alice in Lewis Carrolls Buch versu-
chen, hinter den Spiegel zu gelangen.

Dr. Klaus-Peter Noack

Burg Giebichenstein

Hochschule für Kunst und Design Halle

Designtheorie

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