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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 17.1996

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Bergius, Hanne: Architektur und Prozeß
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https://doi.org/10.11588/diglit.31841#0048

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bruch hatte beispielsweise zur Folge, daß Fo-
tografie und Industriedesign als Aufgaben-
gebiet der Gestaltung entdeckt wurden.

Architektur als prozeß-orientiertes
System

Von der flexiblen Konstruktion über den
bewegten Raum zur wandernden Stadt

Sehen wir nun, wie die Architektur unter den
veränderten Bedingungen der Produktion,
der Kommunikation und des Verkehrs im
Zusammenhang mit gesellschaftlichen und
individuellen Bedürfnissen, zu Ende des Er-
sten Weltkrieges (1917/18), das Konstruieren
systematisch zu neuer Gesetzmäßigkeit er-
hob.

Flexible Konstruktion

„Wir schrauben uns in den Raum...", dekla-
rierte der russische Konstruktivist El Lissitzky
1922 mit revolutionär gestimmtem Zukunfts-
optimismus. Architektur wandelt sich zu ei-
nem offenen Aktionsgerüst für den neuen
Menschen: Der Turm der III. Internationale
von Tatlin (1919/20). (Abb. 1) Der Prozeß der
Konstruktion macht die Dynamik der gesell-
schaftlich treibenden Kräfte transparent: Be-
wegung und Teilnahme an der Bewegung
waren fundamentale Bedingungen der Kon-
struktion. In zwei sich gegenseitig durchdrin-
genden Spiralen schraubt sich die offene
Gerüstkonstruktion empor, in der sich wie-
derum durchsichtige Glaskörper drehen: in
der zu oberst liegenden Halbkugel das
Medienzentrum, in den unteren Glaskuben
die Volksvertretungsorgane. Ihre Drehzeit
war unterschiedlich -jeweils nach Jahr, Mo-
nat und Tag ausgerichtet. Mit dem Neigungs-
winkel von 23,5 Grad stimmt die Konstruktion
überdies mit dem Neigungswinkel der Erde
überein. (4) Angestrebte soziale Ordnung ver-
band die Konstruktion idealiter mit der kos-
mischen Ordnung.

Abb. 1 Tatlin: Turm der III: Internationale, 1919/20

(Modell)

Der Turm zeigt beispielhaft, wie die
konstruktiven Möglichkeiten des Ingenieur-
baues in ihrer ästhetischen Dimension für die
Architektur erschlossen und in eine eigene
architektonische Wirklichkeit übersetzt wur-
den. In der gewaltigen Höhe von 400 geplan-
ten Metern bezog sich dieses Projekt auf das
überragende Monument der Ingenieurbau-
weise, den Eiffelturm, den es um 100 Meter
überragen wollte. Hier wurde der Prozeß der
Montage der Eisen- und Stahlelemente wie
der der statischen Kräfteverhältnisse im Jah-
re1889 im Sinne der Ingenieur-Ästhetik zur
Aussage des Monumentes selbst genutzt -
ohne historisierende Verbrämung. Es stand
für den Fortschritt auf der Hundertjahrfeier
der Französischen Revolution.

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