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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 17.1996

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Bergius, Hanne: Architektur und Prozeß
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https://doi.org/10.11588/diglit.31841#0049

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Dynamischer Raum

Das „wirklich konstruktive Schaffen" (Mies
van der Rohe) wurde im deutschen Konstruk-
tivismus mit dem Vorbild des im Bau befind-
lichen Gerüstes - wie es schon 1851 in Paxtons
Kristallpalast entstanden war - in Verbindung
gebracht. Die dem Zeitwiilen gemäße Bau-
weise war der Skelettbau (Abb. 2); er wurde
entsprechend mitjenen Eigenschaften in Ver-
bindung gebracht, die schon Abbe Laugier
in seinem „Essay sur l'architecture" 1755 der
Urhütte zuschrieb - mit Nützlichkeit und Ein-
fachheit. Doch Mies setzte den „Haut- und
Knochenbau" nicht gleich Architektur, son-
dern dieser war elementarer Kern eines Ab-
straktionsvorganges, um den herum sich die
neuen Vorstellungen von Raum und Zeit erst
entfalten konnten. Denn das Wirksamste an
der Skelettbauweise war deren Umkehrung:
der leere Raum. Erst mit den Entfaltungsmög-
lichkeiten zu einem fließenden Raumerleben
manifestierte sich die eigentliche „geistige"
Qualität des Bauens, die über das Nützliche
und Funktionale hinauswies. Architektur als
„Licht und Raum atmendes Gefüge" (5) - das
war sein baukünstlerisches Anliegen. Mit der
offenen Raumgestaltung sublimierte Mies
van der Rohe, wie viele Avantgardearchi-
tekten der Zeit, ein raumzeitdynamisches
Erleben, wie es die veränderten urbanen und
verkehrstechnischen Bedingungen hervorrie-
fen: „Ein stetes flukturieren, seitwärts und
aufwärts, strahlenhaft, allseitig meldet dem
menschen, daß er den unwägbaren, unsicht-
baren und doch allgegenwärtigen raum -
soweit die menschlichen beziehungen und
heutigen vorstellungen reichen - in besitz ge-
nommen hat." (6)

Dieses dynamische Raumerleben wur-
de 1929 als neue Lebensqualität eines „be-
freiten Wohnens" (7) von Sigfried Giedion für
den sozialen Wohnungsbau eingefordert.
Hier in den neuen Räumen aus „Licht, Luft,
Öffnung" sollte sich ein neuer zeitgemäß le-
bender Menschentypus aufhalten können,
der zugleich sportlich und diszipliniert, dyna-
misch und rational seinen Alltag gestaltete.
Leichtes bewegliches Mobiliar sollte ihm
Bewegungs- und Handlungsspielraum er-
möglichen. Selbst der Schulhof wurde in dem
Projekt der Peterschule von Hannes Meyer

und Hans Wittwer 1927 in Basel nach Licht
und Luft ausgerichtet und aus dem Schatten
der umliegenden Bebauung herausgehoben,
um auch hier dem mobilen sportlich jungen
Menschen sein zeitgemäßes architektonisches
Aktionsgerüst mit einem freien Raum zu ge-
ben.

Abb. 2 Mies van der Rohe: Farnsworth House 1946

Wandernde Stadt

Seit der Industrialisierung des Bauens wurde
der Lebensraum „mobiler denn je" gestaltet
und gehörte, so Hannes Meyer, zu den archi-
tektonischen Innovationen wie "Massen-
mietshaus, Sleeping-Car, Wohnjacht, Trans-
atlantique", die den Lokalbegriff der Heimat
untergruben. „Das Heute verdrängt das Ge-
stern in Stoff, Form und Werkzeug..." (8) Die-
ser Prozeß der Industrialisierung hat seitdem
die Bauprogramme durch zweckorientierte
Standardisierung, Typisierung, Rationali-
sierung und Vorfabrikation bestimmt und
weiterentwickelt in Elementarbauweise,
Fertigungsorganisation und Modulartechnik:
Beispiel Raumzellenbauweise in Stahlbeton
von Herbert Ohl und Bernd Meurer aus der
Ulmer Hochschule (1959). (9) Zweckmäßig-
keit, Konstruktions- und Materialgerechtheit

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