Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
strakten’ Kunst, und zwar in ihren besten, unverfälschten Beispielen, Äußerungen einer präreligiösen
Kunst vorliegen. In ihren Farb- und Formrhythmen gibt sie gelegentlich eine Ahnung von kosmischen
Dingen, die in herkömmlichen Formen mit Überzeugung kaum mehr gestaltet werden können. Es kann
darin sehr wohl die große Frage nach dem jenseits des bürgerlichen Lebens Liegenden, was uns hält, in das
wir unerklärlich hereingetreten sind, anklingen. Der Gestaltende, der sich bewußt ist, daß wir selbst über
Geburt und Tod nicht entscheiden und von etwas Unnennbarem getragen sind, wird es auch ohne wörtli-
che Bezugnahme fühlen lassen können, wenn er dieses neuerwachende und zwingende Verlangen nach ei-
ner neuen Glaubenshaltung in sich trägt . . .« 42

Im Katalog des Pariser »Salon des Realites Nouvelles« von 1951 findet sich folgende damit vergleichbare
Feststellung Kleints: »L’art concret est le seul capable de transformer I’optique de notre vie commune dans
le sens d’un style authentique. Mais il est en meme temps le seul qui remplace d’une fafon pure et nouvelle
l’an religieux.«

Meist sind Kleints Aussagen über diese höchste Dimension der Kunst zurückhaltender. Im Katalog »Reali-
tes Nouvelles« von 1950 heißt es: »Toute oeuvre est abstraction. - Une pomme dans une nature morte ne
sera jamais mangee. Une table dessinee n’est pas une table. - Des choses nous ne connaissons que des
aspects et nous en ignorons toujours leur ample realite. - Une creation abstraite peut donner dans son ryth-
me concret un peu du fond meme de la nature. - Mais les yeux ne sont que des portes: l’essentiel d’une
oeuvre plastique est invisible. C’est lä sa valeur.« Und in »Bilan de l’Art Actuel« (Paris 1953) schrieb Kleint:
»L’art n’est pas une fete pour les yeux, ni pour le createur, ni pour le spectateur. - Ce serait trop peu. -II ne
se fait pas par les mains, mais seulement il commence par l’oeil et s’acheve par la main. - L’art, au depart de
l’homme entier, arrivera de nouveau ä l’homme.«

Vollends steht in Kleints »Bildlehre« das bildnerische Tun im Horizont von Naturzuwendung. Darüber
aber soll jene andere, von Seuphor am deutlichsten formulierte Dimension nicht vergessen werden.

»Das umfassende Vor-Bild für Gestaltung und Erfindung ist die Natur. Sie ist die Quelle, aus der man
schöpfen kann und muß. Natur ist das, was vor dem Menschen da war, was er nicht geschaffen hat und
wozu er selbst gehört«, heißt es in der »Bildlehre«. 43 Natur ist für Kleint Vor-Bild der Gestaltung und Er-
findung vor allem in Hinsicht auf deren unerschöpflichen Reichtum an Variationen und den darin walten-
den Ordnungszusammenhängen. Ähnliche Ordnungsreihen kehren in den Bildmitteln wieder: »Die Ord-
nungsreihen in der Natur verbinden sich wie in den Reihungen der Bildmittel durch Bindeglieder, durch
Bastarde, Hybriden und Mischformen, mit anderen, an sich fremden und in sich geschlossenen Gruppen.
Der sogenannte Katzenbär kann von seiner Erscheinung her sowohl als Katze wie als Bär aufgefaßt wer-
den, obwohl die Varietäten der Katzen und die der Bären untereinander geschlossene Gruppen sind, und
der Maulesel steht als bildliche Form zwischen Pferd und Esel.

In ähnlicher Weise variieren Pflanzen: Birnen und Äpfel wandeln ihre Grundform ab und bleiben doch in
der Art, aber es gibt auch annähernd apfelförmige Birnen und birnenförmige Äpfel - formale Mischglieder
zwischen beiden Gattungen. Genau wie die Variation und Kombination von Bildelementen und
-figuren immer Neues hervorbringt, führt auch die absichtliche Bastardisierung in der Tier- und Pflanzen-
züchtung zur Vermehrung der Lebensformen. Eines wird deutlich am anderen, die Ergebnisse mögen ver-
schieden sein, die Methodik ist die gleiche, die Analogie instruktiv . . .« 44

Das Schaffen Kleints stellt sich - vor allem seit seiner »plastischen Periode« - unter das Thema von Varia-
tionen und Kombinationen einfacher bildnerischer Elemente. Auch hierfür gilt, wie für die Produktivität
der Natur: »An welchem Punkt auch angesetzt wird, verzweigt sich alles fast ins Grenzenlose . . ,« 45
Ausgangspunkt dieses Neuansatzes ist die Präsentation der bildnerischen Grundformen und ihrer räumli-
chen Entfaltungen. Die »plastischen Grundformen« setzen 1951 ein mit »Standfläche« und werden 1954
fortgeführt mit »Vorfläche«,»Dach«, »Grundfläche«, »Kugel«, »Stift«. Und sogleich wird ihre Anordnung in
den Raum erweitert: »Raumflächen« (1954), »Staffelung« (1955), »Standflächen blau« (1961), » Tripel« (1955),
»Standflächengerüst« (1977) seien als Beispiele genannt und weisen darauf hin, daß »Anordnungen im
Raum« als die »weitaus freiesten« gelten können. 46

Abb. 113
Abb. 111-115
Tafel 40, Abb. 116-118
Tafel 56

30
 
Annotationen