Donnerstag, den 8. Januar.
Inhalt: Barfüßele von Berthold Auerbach. — Jugendschristen von Ferdinand Schmidt. — Hinzelmcicr. Eine nachdenkliche Geschichte v. Th. Storm.
— Lieder aus der Fremde. Herausgegeben von Hermann Harrys.
D,1 r f ü (j c 11
von Berthold Auerbach.
Barfüßele ist, wie der Titel leicht errathen läßt, eine neue
Dorfgeschichte; sie erscheint selbständig und bildet allein einen mä-
ßigen Band; aber innerlich ist sie ebenso wie äußerlich selbständi-
ger, abgerundeter, in sich vollkommener. Ucber die litterarhistorische
Stellung der Dorfgeschichte überhaupt, und über die Stelle, welche
Auerbach in derselben insbesondere einnimmt, hat das Literaturblatt
am Ende des dritten und Anfang des vierten Jahrganges aus-
führlich gehandelt; indem wir darauf verweisen, können wir uns
der Erörterung allgemeiner Gesichtspunkte enthalten, und die
Besprechung des vorliegenden Werkes auf eine Vergleichung mit
den früheren desselben Dichters beschränken. Namentlich aber
über den Gegensatz des Realismus und Idealismus in der künst-
lerischen Auffassung und Darstellung, zu welchem dieser Litera-
turzweig ein eigcnthümliches Verhältniß hat, müssen wir auf frühere
Auseinandersetzungen Hinweisen. Wenn Auerbach in der vorliegen-
den Geschichte noch mehr als in früheren der idealistischen Richtung
des poetischen Schaffens sich anschließt, so finden wir dies ebenfalls
noch mehr als früher berechtigt und angemessen, zumal da zugleich
die innere Natürlichkeit und Folgerichtigkeit, der realistische Zusam-
menhang ans idealem Boden in noch höherem Maße zur Erschei-
nung kommt. Wir glauben, daß dies, wahrscheinlich dem Dickster
selbst unbewußt, geschehen ist, und daß wir cs als desto berechtigter
anerkennen müssen, weit in den ersten Dorfgeschichten, als dies
Feld für die poetische Cultur erst urbar gemacht wurde, es sich we-
sentlich darum handelte, zunächst den Gattungscharakter des Bauern
zur Darstellung zu bringen, wie dies bei Jmmermann fast die aus-
schließliche Aufgabe, ist. Es kam also darauf an, den allgemeinen
Charakter der ganzen äußeren und inneren Sphäre dieses Lebens zur
poetischen Anschauung zu bringen, die gcsammte Eigenthümlichkeit, welche
allen Personen, Beziehungen und Ereignissen dieses Kreises anhasten,
herauszubilden, und eben deshalb mußte vorwiegend eine genaue
Portraitirung, eine realistische Abschilderung des Thalsächlichen zu
Hülfe kommen, um die Eigenthümlichkeit des poetischen Eindrucks aus
das Gemüth und die Phantasie des Lesers zu sichern. Bieles hat
daher auch seinen wohlthuendcn Eindruck nicht verfehlt, was, an
sich betrachtet, doch ohne eigentlichen poetischen Werth war. Nun-
mehr aber weiß der Dichter den Leser eben so sehr wie sich selbst
in dieser Region heimisch; er braucht uns Land und Leben, Arbeit
und Genuß, Einrichtungen und Bestrebungen der Leute nicht mehr
zu schildern; heimelt es uns doch in dieser Geschichte gar wohlig an,
da wir Dominik und Amaile als Hochzeitseltern, die Frau von
Literatur-Blatt.
Brosts Severin als Hochzeitsgäste wiedersinden! Nunmehr kann der
Dichter sich unmittelbar an das individuelle Leben des Einzelnen
wenden, seine poetische Phantasie kann sich frei ergehen, sicher
nichts Unverständliches und Fremdes zu schaffen; nur dem idealen
Gesetz und Trieb der poetischen Schöpfung braucht er zu folgen, und
er thut es in edelster Weise.*) Hierin liegt auch der Grund, (der
mit jedem jüngeren Werke des Dichters immer stärker werden mußte)
weshalb die Anwendung des Dialects im Dialog mit jeder neueren
Dorfgeschichte mehr und mehr zurückgetreten, und in dieser fast gänz-
lich verschwunden ist, ohne daß wir ihn entbehren. Die Stärke
der Charakteristik ist so gewachsen, daß sie dieses äußerlichen Hülfs-
mittels nicht mehr bedarf; und anstatt in der Rede der Personen immer
an ihre gemeinsame Eigenthümlichkeit zu erinnern, wodurch im-
mer wieder etwas von der individuellen verwischt und abgeschwächt
wird, tritt die letztere nunmehr rein hervor. — So liegt denn auch die Kraft
und der Werth dieser Dichtung wesentlich in der Entfaltung eines durch-
aus individuellen Charakters, dessen schöne und starke Eigenthümlich-
keit theils durch Gegensätze zu andern, die ihm zur Folie dienen
(Dami, auch Nosel), in ein helleres Licht gestellt, theils durch Aehn-
lichkeit mit anderen, die Einfluß auf ihn üben (die schwarze Maran),
veranschaulicht und auch erklärt wird; und ebenso wie die umgeben-
den Personen, sind alles Thun und Leiden, die Ereignisse und Hand-
lungen Barsüßeles so sehr in stetiger Harmonie mit dem Charakter,
daß das Bild" desselben vollendet, in Leben und Bewegung zur An-
schauung kommt. — Man kann unter dem Namen des Gegensatzes
von Realismus und Idealismus noch etwas anderes begreifen, als
den oben erwähnten von Naturnachahmung und freier Schöpfung.
Die mannichfaltigen Elemente der Wirkung einer Erzählung scheiden
sich nämlich in zwei Arten; auf der einen Seite steht die natu-
ralistische Wirkung des bloßen Stoffes, die Anregung der Sympa-
thie zu Freud und Leid, die Erschütterung und Erheiterung des Ge-
müths durch Darstellung von Glück und Unglück, ferner die Span-
nung des Gemüths durch hingedehnte Theilnahme an einem schwe-
benden Schicksal, u. dergl. mehr; auf der anderen Seite steht die
ästhetische Wirkung, welche, gleichviel bei welchem Inhalt, sich auf
die Ausformung desselben bezieht und lediglich in dem Anblick der
Schönheit beruht, welche sich in der Wahrheit, der Eigenthümlich-
*) Wenn wir uns denken, daß die Dorfgeschichten auch zur Lectüre für
Dorfbewohner dienen, was allerdings nicht häufig der Fall sein soll, so mußten
jene Partieen, welche wesentlich nur ein Conterfei des Landlebens ausmachten,
für sie, als Allbekanntes äußerst langweilig sein; denn alle streng realistische
j Schilderung wird zwar für den Gebildeten, nicht aber für den Bauern ein In-
teresse haben. Das Barfüßele aber hat wenig oder nichts mehr von jener blo?
orientirenden Malerei.
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Inhalt: Barfüßele von Berthold Auerbach. — Jugendschristen von Ferdinand Schmidt. — Hinzelmcicr. Eine nachdenkliche Geschichte v. Th. Storm.
— Lieder aus der Fremde. Herausgegeben von Hermann Harrys.
D,1 r f ü (j c 11
von Berthold Auerbach.
Barfüßele ist, wie der Titel leicht errathen läßt, eine neue
Dorfgeschichte; sie erscheint selbständig und bildet allein einen mä-
ßigen Band; aber innerlich ist sie ebenso wie äußerlich selbständi-
ger, abgerundeter, in sich vollkommener. Ucber die litterarhistorische
Stellung der Dorfgeschichte überhaupt, und über die Stelle, welche
Auerbach in derselben insbesondere einnimmt, hat das Literaturblatt
am Ende des dritten und Anfang des vierten Jahrganges aus-
führlich gehandelt; indem wir darauf verweisen, können wir uns
der Erörterung allgemeiner Gesichtspunkte enthalten, und die
Besprechung des vorliegenden Werkes auf eine Vergleichung mit
den früheren desselben Dichters beschränken. Namentlich aber
über den Gegensatz des Realismus und Idealismus in der künst-
lerischen Auffassung und Darstellung, zu welchem dieser Litera-
turzweig ein eigcnthümliches Verhältniß hat, müssen wir auf frühere
Auseinandersetzungen Hinweisen. Wenn Auerbach in der vorliegen-
den Geschichte noch mehr als in früheren der idealistischen Richtung
des poetischen Schaffens sich anschließt, so finden wir dies ebenfalls
noch mehr als früher berechtigt und angemessen, zumal da zugleich
die innere Natürlichkeit und Folgerichtigkeit, der realistische Zusam-
menhang ans idealem Boden in noch höherem Maße zur Erschei-
nung kommt. Wir glauben, daß dies, wahrscheinlich dem Dickster
selbst unbewußt, geschehen ist, und daß wir cs als desto berechtigter
anerkennen müssen, weit in den ersten Dorfgeschichten, als dies
Feld für die poetische Cultur erst urbar gemacht wurde, es sich we-
sentlich darum handelte, zunächst den Gattungscharakter des Bauern
zur Darstellung zu bringen, wie dies bei Jmmermann fast die aus-
schließliche Aufgabe, ist. Es kam also darauf an, den allgemeinen
Charakter der ganzen äußeren und inneren Sphäre dieses Lebens zur
poetischen Anschauung zu bringen, die gcsammte Eigenthümlichkeit, welche
allen Personen, Beziehungen und Ereignissen dieses Kreises anhasten,
herauszubilden, und eben deshalb mußte vorwiegend eine genaue
Portraitirung, eine realistische Abschilderung des Thalsächlichen zu
Hülfe kommen, um die Eigenthümlichkeit des poetischen Eindrucks aus
das Gemüth und die Phantasie des Lesers zu sichern. Bieles hat
daher auch seinen wohlthuendcn Eindruck nicht verfehlt, was, an
sich betrachtet, doch ohne eigentlichen poetischen Werth war. Nun-
mehr aber weiß der Dichter den Leser eben so sehr wie sich selbst
in dieser Region heimisch; er braucht uns Land und Leben, Arbeit
und Genuß, Einrichtungen und Bestrebungen der Leute nicht mehr
zu schildern; heimelt es uns doch in dieser Geschichte gar wohlig an,
da wir Dominik und Amaile als Hochzeitseltern, die Frau von
Literatur-Blatt.
Brosts Severin als Hochzeitsgäste wiedersinden! Nunmehr kann der
Dichter sich unmittelbar an das individuelle Leben des Einzelnen
wenden, seine poetische Phantasie kann sich frei ergehen, sicher
nichts Unverständliches und Fremdes zu schaffen; nur dem idealen
Gesetz und Trieb der poetischen Schöpfung braucht er zu folgen, und
er thut es in edelster Weise.*) Hierin liegt auch der Grund, (der
mit jedem jüngeren Werke des Dichters immer stärker werden mußte)
weshalb die Anwendung des Dialects im Dialog mit jeder neueren
Dorfgeschichte mehr und mehr zurückgetreten, und in dieser fast gänz-
lich verschwunden ist, ohne daß wir ihn entbehren. Die Stärke
der Charakteristik ist so gewachsen, daß sie dieses äußerlichen Hülfs-
mittels nicht mehr bedarf; und anstatt in der Rede der Personen immer
an ihre gemeinsame Eigenthümlichkeit zu erinnern, wodurch im-
mer wieder etwas von der individuellen verwischt und abgeschwächt
wird, tritt die letztere nunmehr rein hervor. — So liegt denn auch die Kraft
und der Werth dieser Dichtung wesentlich in der Entfaltung eines durch-
aus individuellen Charakters, dessen schöne und starke Eigenthümlich-
keit theils durch Gegensätze zu andern, die ihm zur Folie dienen
(Dami, auch Nosel), in ein helleres Licht gestellt, theils durch Aehn-
lichkeit mit anderen, die Einfluß auf ihn üben (die schwarze Maran),
veranschaulicht und auch erklärt wird; und ebenso wie die umgeben-
den Personen, sind alles Thun und Leiden, die Ereignisse und Hand-
lungen Barsüßeles so sehr in stetiger Harmonie mit dem Charakter,
daß das Bild" desselben vollendet, in Leben und Bewegung zur An-
schauung kommt. — Man kann unter dem Namen des Gegensatzes
von Realismus und Idealismus noch etwas anderes begreifen, als
den oben erwähnten von Naturnachahmung und freier Schöpfung.
Die mannichfaltigen Elemente der Wirkung einer Erzählung scheiden
sich nämlich in zwei Arten; auf der einen Seite steht die natu-
ralistische Wirkung des bloßen Stoffes, die Anregung der Sympa-
thie zu Freud und Leid, die Erschütterung und Erheiterung des Ge-
müths durch Darstellung von Glück und Unglück, ferner die Span-
nung des Gemüths durch hingedehnte Theilnahme an einem schwe-
benden Schicksal, u. dergl. mehr; auf der anderen Seite steht die
ästhetische Wirkung, welche, gleichviel bei welchem Inhalt, sich auf
die Ausformung desselben bezieht und lediglich in dem Anblick der
Schönheit beruht, welche sich in der Wahrheit, der Eigenthümlich-
*) Wenn wir uns denken, daß die Dorfgeschichten auch zur Lectüre für
Dorfbewohner dienen, was allerdings nicht häufig der Fall sein soll, so mußten
jene Partieen, welche wesentlich nur ein Conterfei des Landlebens ausmachten,
für sie, als Allbekanntes äußerst langweilig sein; denn alle streng realistische
j Schilderung wird zwar für den Gebildeten, nicht aber für den Bauern ein In-
teresse haben. Das Barfüßele aber hat wenig oder nichts mehr von jener blo?
orientirenden Malerei.
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