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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 16.1905

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Michel, Wilhelm: Materialgemäß
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https://doi.org/10.11588/diglit.8553#0243
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MATHILDE UND ELSE HUBER—CHARLOTTENBURG.

Kissen mit Maschinen-Stickerei.

MATERI ALGEMASS.

Auf allen Linien, auf denen der Kampf
L um das neue Kunstgewerbe tobt, hört
man kein Wort öfter erschallen als die
Losung: »Materialgemäß«! Sie ist Schlacht-
ruf bei Abwehr und Angriff, sie steht auf
allen Panieren geschrieben, sie ist längst
zum Range eines Axioms emporgestiegen,
welches Beweiskraft hat, ohne selbst eines
Beweises zu bedürfen. Man spricht ohne
weiteres ein Lob aus, wenn man eine Form
als »Materialgemäß« bezeichnet; und selbst
wenn diese Form roh und künstlerisch un-
gebildet bleibt, so gilt sie doch durch diese
eine Eigenschaft für geadelt und gerechtfertigt.

Die Entwicklung führt manchmal tolle
Satyrspiele auf. Denselben Künstlern, die
vor zehn, zwanzig Jahren mit dem Schlacht-
ruf »Materialgemäß« gegen die orgiastische
Material-Vergewaltigung des alten Kunst-
gewerbes zu Felde zogen, wird nun manch-
mal, weil sie sich inzwischen weiter ent-
wickelt haben, das Wort Materialgemäß wie
ein höhnischer Steinblock vor die Füsse
gerollt. Weil sie inzwischen erkannt haben,
dass in der Material - Gerechtigkeit allein
noch kein form- oder stilbildendes Element
liegt, weil sie die puristische Zwischenstufe
hinter sich gelassen haben und ihrer künst-
lerischen Gestaltungskraft wieder freieren
Spielraum gönnen, müssen sie sich nun
wieder an diese Losung ihrer ersten Rekog-
noszierungs-Gefechte erinnern lassen: unter
Umständen sogar von denselben Leuten,
denen sie damals über die Nichtsnutzigkeit
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des alten Schlendrians erst die Augen ge-
öffnet haben.

Dies ist der Punkt, an welchem die For-
derung »Materialgemäß« zu einer ungerechten
Fessel, zu einem nutzlosen Schmarotzer
wird. Sie wurde seinerzeit aufgestellt, um
der sinn- und gedankenlosen Dekorations-
Schablone den Krieg zu machen. Nie und
nimmer aber kann sie dazu befugt sein, der
berechtigten Subjektivität des formenhung-
rigen Künstler-Ingeniums die kalte Teufels-
faust entgegenzustrecken.

Das Axiom »Materialgemäß« hat uns jene
Unzahl von kunstgewerblichen Erzeugnissen
beschert, an denen weiter nichts ästhetisch
wirkt als eben das Material, diese windigen
Kukukseier, deren Form nachlässig erfunden
ist, deren Material sich in wahllosen Flächen
mit naturalistischer Grobheit entfaltet, ohne
dass man das Walten der künstlerischen
Gestaltungskraft wahrnimmt oder einen
Hauch formbildenden Geistes verspürt. Wenn
die Forderung »Materialgemäß« aber diesen
Dilettantismus, diese unschöpferische Resig-
nation des künstlerischen Spieltriebes zu
decken imstande ist, so scheint doch eine
Revision dieses Dogmas sehr an der Zeit
zu sein.

Wie? Müssen es sich denn die Stoffe
nicht gefallen lassen, dass wir sie nach
Maßgabe unserer höheren Absichten in
die Formen kleiden, auf die wir uns nun
einmal kapriziert haben ? Heisst es nicht
das gegebene Machtverhältnis des Künst-
 
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