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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 19.1906-1907

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Schaukal, Richard von: Die sogenannte "Moderne" Wohnung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9554#0415
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H. BEK-GRAN—NÜRNBERG.

Die volle Wirkung erlangt eine solche »moderne«
Wohnung natürlich erst durch das gesinnungs-
verwandte Mobiliar. Bald regt es sich die kurzen
Wände entlang von allerlei verrenkten mißfarbig
gebeizten kupferbeschlagenen Kasten und Kästchen,
die wildbaumelnde Herde der Beleuchtungskörper
ruckt lärmend ein, das »Kunstgewerbe« über-
flutet alle Standflächen. Schlangenlinien und
Lilienwindungen wimmeln auf Tischdecken und
Buchrücken; »und drinnen?, mitten in all dem
schneidendfalschen Getön der ärgerlichsten Will-
kür waltet die Hausfrau im neudeutschen Reform-
gewande. Geschmacklosigkeit, dein Name ist neu-
deutsches Bürgerheim! Die ganze fade Schau-
spielerei der künstlichen »Kultur« unsrer armselig
dünkelhaften Jetztzeit grimassiert aus diesem grünen
und blauen weichen Holzmobiliar des spiegelnden
Eßzimmers, dem mahagoniartig stelzenden Filigran-
gestühl der natürlich mit Reproduktionen nach
Böcklin geschmückten Empfangsstube, wo überm
Klavier der Seidenteppich an der »Pflanzen-
form«-Tapete schmachtet. Und nicht besser
macht sich die Sache, wenn in die aus Attrappen
gestückelte, an »Räumen« reichliche hochmoderne
Wohnung (deren Typ sich ohne die geringste
Maßdifferenzierung für den Kleine-Leute-Bedarf:
»Zwei-Zimmer — eine Küche« ins Unabsehbare
weiterabklatscht) eine noch nicht ganz »verne-
werte« Familie einzieht, eine Familie, die noch
mit Porzellanuhren aus dem »Rokoko« - Unfug,
»altdeutschen« Trinkstuben-Schragen und türki-

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Druck: Vereinigte Druckereien
vorm. Schön 8c Maison—München.

sehen Divangaleeren erblich oder ehefeierlich
belastet ist. Die geringsten Anforderungen an
die Kultur des wohlbestellten Tisches, die Hygiene
des nüchternen Schlafzimmers, die menschen-
würdige Dienstleute-Bergung sind dieser die gro-
teskesten Kinderbücher geistesfreiheitsfroh er-
stehenden bürgerlichen Mittelschicht unbekannt
oder zumindest nicht zur kritiklosen Behandlung
gediehen, aber sie dünken sich wunder wie weit
über den altmodisch um den Jausetisch ver-
sammelten Tanten, dem unentwegt der Garten-
laube verbündeten Oheim. In einem Milieu, das,
sei es nun völlig dem neuen Talmistil angepaßt
oder nur halbschlächtig, jede billige Bitte des
noch nicht rettungslos schielenden Auges grob
verhöhnt, wird bei literarisch angehauchten Tees
das Bewußtsein der ästhetischen Entwicklung
wechselseitig gekitzelt. Mappenwerke exotischer
Herkunft und »philosophische« Symphoniekonzerte
bilden den Gegenstand der gespreizten Konver-
sation, und der glattrasierte Elegant und im Ge-
heimen berühmte Dichter angelesener »Symbo-
listik« rät beifallssicher zur stimmunghaften Aus-
gestaltung der »Vitrinen«-Ecke durch Holzschnitte
des augenblicklich umworbensten Buchschmuck-
Künstlers N. O. — Sollte man es für möglich
halten, daß der Familienvorstand fern in der Pro-
vinz noch einen alten Vater hat, der im grünen
tuchenen Großvaterlehnstuhl am weißen Kachel-
ofen zur blanken glatten Öllampe aus einem
marmorierten Bande auf Velinpapier Stifter liest?
 
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