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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 29.1911-1912

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Roessler, Arthur: Bildhauer Jan Stursa, Prag
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https://doi.org/10.11588/diglit.7012#0472
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Bildhauer Jan Sturset.

sucht und Abenteuerbegierde, den Mann in
seiner Kraft, das Weib in seinem Prangen, die
Mutter in ihrer Würde, die sichtbare Welt in
ihrer Formen Vielfältigkeit. Die Kunst beschenkt
uns mit einer Wollust, für die es kein Übermaß,
keine Erschlaffung gibt, und mit einer unsagbar
tiefen Trauer vermag sie uns zu erfüllen, einer
Trauer jedoch, die unserem Herzen nicht wehe
tut. Denn die Leiden, die uns die Kunst be-
reitet, bewegen uns, ohne uns zu erniedrigen,
und immer wandelt sich alles Leiden durch sie
schließlich in tiefste und reinste Lust bei dem
Beschauen und Erfühlen der ihr wahrhaft
eigentümlichen Werke. Einmal für die Wunder
und Wohltaten der Kunst empfänglich gewor-
den, bleiben wir es, solange wir atmen. Sie ist
das, was uns die eigentliche Menschenwürde
verleiht. Daher empfindet der Kritiker nie mehr
Genugtuung, als wenn er ein Gebilde von
Menschenhand kunstgelungen, nie mehr Befrie-
digung, als wenn er es als schön preisen darf.

Die Arbeiten des genial begabten Bildhauers
Jan Stursa geben dem Kritiker Anlaß zu
dieser genußreichen Doppelempfindung.

1880 in Neustadtl in Mähren geboren, unter
Prof. Mysselbek an der Prager Kunstakademie
und auf Reisen durch Deutschland, Italien,
Frankreich und England emsig lernend, jetzt
als Assistent seines vormaligen Lehrers an der
Prager Akademie tätig, gelangte Jan Stursa in
raschem, ungestörtem Aufstieg zu einer schier
meisterlich zu nennenden Künstlerschaft, die
es ihm ermöglichte, sich binnen wenigen Jahren
mit einem ganzen Volk selbstgeschaffener Ge-
stalten aus Erz und Stein zu umgeben.

Was ich in den einleitenden Sätzen im allge-
meinen andeutete, trifft im besonderen bei
Stursas Kunstgebilden zu: es läßt sich oft, und
zwar just bei den besten Werken, nicht sagen,
warum sie in einem hohen Grade kunstwertig
sind. Es läßt sich nicht sagen, weil ihr Bestes,
ihr Kunstwesentliches unsagbar ist, nur durch
sinnfälliges Erfassen, das heißt, nur als Gegen-
stand der Seh- und der Tastsinnlichkeit restlos
in unser Gefühl und Bewußtsein eingeht. Wer
nun meint, das Unsagbare sei das Unvernünf-
tige, und damit das Nutzlose, dem will ich nicht
dawiderreden, ihn nur daran erinnern, daß Hegel
folgerte, es müsse dann logischerweise „alle
Existenz, weil sie immer und immer nur diese
Existenz ist, Unvernunft sein; daß sie es aber
nicht ist, da die Existenz für sich selbst auch
ohne Sagbarkeit Sinn und Vernunft hat". Nur
durch den Tastsinn und den Sehsinn, haupt-
sächlich durch den letzleren, können wir uns
des Sinnes einer Skulptur bemächtigen. Sehen
können muß man die Wunder der Form des

menschlichen Leibes, sehen, wie sie der Bildner
sieht, und sich beglückt fühlen durch ihre Schön-
heit der Linie und Lagerung der Massen, durch
ihre zuständliche Ruhe, ihre seelisch oder kör-
perlich bedingte Bewegung. Und im Beschauen
der Skulptur muß die Empfindung aufwachsen,
daß man es mit einem Organismus zu tun hat
— dann ist das Werk kunstgelungen. Will man
dann noch außerdem die Schöpfung des Künst-
lers sachkritisch beurteilen, muß man dreierlei
beachten: Auffassung, Darstellung und Gegen-
stand. Die beiden ersten Momente sind als
Tätigkeiten positiv, der Gegenstand in seinem
Verhältnis zum Künstler lediglich passiv. Die
Beurteilung des Künstlers von der Wahl seines
Gegenstandes abhängig zu machen, wäre ein
Beginnen, das ein nur seichtes Verständnis für
die Dinge der Kunst beweisen würde. Auf
Stursa angewendet, heißt das, man darf nicht
schnüffeln wollen, was den Künstler dazu ver-
anlaßt, fast ausschließlich das Weib als Objekt
der Darstellungen in Stein und Erz zu küren;
denn nicht das hat uns zu kümmern, sondern
die Frage: wie ist seine Auffassung des Gegen-
ständlichen und ihre Manifestation in der künst-
lerischen Gestaltung. Wenn wir diesem Grund-
satz folgen, werden wir bei der innigen Be-
schäftigung mit Stursas Skulpturen zu dem Er-
gebnis gelangen, daß sowohl Auffassung wie
Darstellung künstlerisch wertgrädig sind.

Über die Gesetze, denen ein gesehenes Ding
als Erscheinung im Räume Untertan ist, hat sich
Stursa gefühls- und erkenntnismäßige Klarheit
errungen; er weiß auch zwischen Funktions-
und Raumwirkung zu unterscheiden, zwischen
Daseins- und Wirkungsform, und hat erkannt,
daß in der für das Auge bestimmten Kunst nur
die Darstellung der sichtbaren Eigenschaften
einer Erscheinung, eines Dinges kunstgemäß ist,
und zwar, da es sich um Plastik handelt, um
die einheitlich sichtbare Gestaltung einer räum-
lichen Wirkungsform. Die ästhetisch grundsätz-
liche Forderung der einheitlichen Ansichtsmög-
lichkeit finden wir bei allen reifen Arbeiten
Stursas berücksichtigt, außerdem noch finden
wir alle seine Arbeiten im spezifisch bildhaue-
rischen Sinn „aus dem Block heraus" geformt.
Die Umrißlinie der geschlossenen Form läßt
deutlich genug erkennen, daß sie aus einem
Block herausgeschält, herausgeschlagen, ge-
hoben wurde. Jede stärkere Bewegung, mög-
licherweise barock wirkende Linie ist in das
Innere der ruhig fließenden, monumental ge-
schlossenen, großen Form verlegt, und dadurch
eine überaus künstlerisch wirkungsvolle Ein-
heitlichkeit der Erscheinung erreicht.

Mag es nun ein „kauerndes Mädchen" oder

1912. VI. 6.

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