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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 41.1917-1918

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Prellwitz, K.: Sehen lernen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8537#0327

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ENTW. U. AUSF: K. K. FACHSCHULE IN HAIDA. »BLUMENSCHALE« BLAU ÜBERFANGEN U. GEKUGELT.

SEHEN LERNEN.

Sehen lernen! Es ist nicht die Absicht eine
Moralpredigt zu halten; es könnte schließ-
lich sein, daß jeder von uns sich an die Brust
zu schlagen und sich einiges vorzunehmen hätte.

In zwanzig Jahren ist in Deutschland sehr
viel geschehen, um Augen, die stumpf waren
gegen Natur und Kunst, zu schärfen. Licht-
wark, Konrad Lange und andere haben ge-
mahnt, haben Anleitungen gegeben. Sie sind
gehört worden und viele um sie herum sind
auferstanden, die es als eine soziale Mission
angesehen haben, den Augen Schönheit zu er-
schließen, die unfaßbar vor ihnen gelegen.

Hinter diesem Streben war zweierlei. Ein-
mal der Wille, die Kunst, die von einem
Schlag Menschen, der sich „Kenner" nannten,
in einer Treibhausathmosphäre gehalten war,
frei zu machen, und zum anderen war es eine
Mildherzigkeit gegenüber den künstlerisch Ar-
men, die ausgeschlossen waren von jedem Ge-
nießen des Künstlerischen, weil die Organe,
mit denen die Natur sie wohl ausgestattet hatte,
nicht entwickelt waren. Man wollte ihnen hin-
weghelfen über dieses Nichtverstehen, wollte
sie aufnahmefähig machen und ihnen damit
Möglichkeiten der Beglückung erschließen.

Das alles hat willige Hörer in Deutschland
gefunden. Man hat sich gern hinführen lassen
zu den Werken der Kunst, der alten und der

neuen, von denen man wußte oder doch dumpf
ahnte, daß in ihnen Kräfte verborgen lägen,
die für sich und wenn man will: in sich zu
heben Erweiterung der Lebensantriebe wäre.
Vom Volk aus, das nach geistigem und seeli-
schem Besitz zu hungern angefangen hatte,
wurde Kunst ja längst nicht mehr angesehen
als Luxus des schlemmenden Reichtums. Ge-
wiß, an den materiellen Besitz von Kunstwerken
zu denken, war nicht erlaubt. Aber es gab die
Erkenntnis, daß es am Kunstwerk eine höhere
Art des Besitzens gäbe, daß man es in seiner
ganzen Herrlichkeit nur eingehen zu lassen
brauche durch die beiden Seelentore: die Augen
und daß dieses Sichzueigenmachen nicht das
Privileg weniger Auserwählter zu sein brauchte.
Zugleich war auch Einhelligkeit darüber, daß
das Auge ein Apparat war, der wie das Ob-
jektiv der Kamera auf dem richtigen Punkt
oder aber auch sehr falsch eingestellt sein
könnte, daß es eine besondere, erlernbare Fer-
tigkeit wäre, Kunstwerke ihrem Sinn nach und
ohne Einbuße an ihrem eigentlichen Gehalt zu
sehen. Eine Radierung von Rembrandt besagt
wohl auch dem primitivsten Sinn etwas, aber
sie besagt nur etwas, sie könnte und würde
ihm unendlich mehr bieten, wenn diese Primi-
tivität des Auffassungsvermögens nicht wie eine
Blendscheibe sich dazwischen befände. Es ist
 
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