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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 50.1922

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Pfister, Kurt: Pablo Picasso: Ausstellung in der modernen Galerie Thannhauser, München
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Niebelschütz, Ernst von: Betrachtungen zur Bilanz des Expressionismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.9143#0262
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Pablo Picasso.
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Die Schau von etwa fünfzig Gemälden, Pastel-
len, Zeichnungen, die die Münchner Galerie
Thannhauser nun in einer außerordentlich dan-
kenswerten Ausstellung darbietet, läßt über die
Richtung von Picassos Weg keinen Zweifel auf-
kommen. Er formt heute durchaus gegenständ-
liche, naturnahe Bildnisse und Figuren, scharf
konturierte, geschwellte Formen, einfache, fast
kolorierende Farben. Also, wenn wirklich ein
Schlagwort benötigt wird: Ingres, Klassizismus.
Nur daß Picasso neben jenen karger, nüchterner,
bewußter und sehr viel anspruchsvoller wirkt.

Über die Gründe der Entwicklung gehen die
Meinungen auseinander. Übelwollende sprachen
von Sensationslust, Freunde wie Raynal von
Symptomen menschlicher und künstlerischer
Unsicherheit, von Übergangskunst, von dem Er-
löschen irgendwelcher Sterne in seinen Augen.

Aber vielleicht ist dieser neue Weg nichts
weiter als eine Fortsetzung des alten mit anderen
Mitteln. Wie das System des kubistischen
Bildes Ausdruck und Spiegel der logischen Ge-

setzlichkeit der Welt sein sollte, so jetzt die
überklaren, gegenständlichen Umrisse eine Art
Flucht aus dem Chaos, ein Rettungsanker, ein
Manifest, das inmitten des Orkans Beruhigung
und Sicherheit verheißt und vortäuscht.

Viele übersehen die Paradoxie solchen Be-
ginnens und vergessen, daß harmonische Form
und Klassizität Ausdruck einer gesicherten, in
sich ruhenden Welt und Menschlichkeit sein
müßte. Das Werk Picassos aber von seinen An-
fängen an ist Ausdruck einer morbiden Zeit,
oder doch gerade der in ihr zersetzend wirken-
den Tendenzen.

Die gelassene Sicherheit, der Wille zur klas-
sischen Harmonie, die hier so ganz intellek-
tuelle Geste und Krampf bleiben, bieten ein
Schauspiel, das von tragischer Ironie erfüllt ist.
Vielleicht war auch diese neue WendungPicassos
eine der Masken, mit denen der vielgewandte
Alexandriner wohl immer schon die Melancholie
und Skepsis seines Blutes und seiner Nerven
zu bedecken wußte. . . kurtpfister-München.

BETRACHTUNGEN ZUR BILANZ DES EXPRESSIONISMUS.

von ernst v. niebelschütz.

Die Frage, ob man heute schon von einem
bevorstehenden Rechnungsabschluß des
Expressionismus sprechen darf, wird von vielen
leidenschaftlich verneint werden; außer von
Künstlern und literarischen Wegebahnern auch
von denen, deren Umstellungsvermögen nicht
geübt genug ist, um eine Bewegung, der sie
nach langem Zögern erst gestern ihr Plazet er-
erteilt haben, heute schon kritisch betrachten
zu können. An sich ist das kein Beweis gegen
die Berechtigung der Fragestellung; denn was
im Mittelalter Jahrhunderte, dann Jahrzehnte
dauerte, nimmt heute weit kürzere Zeiträume
in Anspruch. — Eins scheint mir sicher: der
Expressionismus — ich meine die programma-
tisch gebundene Richtung, nicht etwa die indi-
viduelle Ausdrucksform — zeigt jetzt bereits
Degenerationssymptome, die uns über das
Tempo, mit dem sich heute geistige Bewegungen
vollziehen, nachdenklich stimmen sollten und die
Vornahme eines Ausgleichs von Einnahme und
Ausgabe zur Pflicht machen.

Ohne Frage ist der Expressionismus als Rück-
schlag gegen die Übertreibungen der impressio-
nistisch -materialistischen Sinnenkultur von psy-
chologischen und geschichtlichen Notwendig-
keiten getragen, denn die Imponderabilien
des Seelenlebens lassen sich auf die^ Dauer
nicht ausschalten. Wäre es ihm vergönnt ge-
wesen, diese Verlegung des Schwerpunkts von

außen nach innen unter Schonung des natür-
lichen, nun einmal aus Seele und Körper be-
stehenden Menschen vorzunehmen, so hätte
sich der Expressionismus vor der Geschichte
wohl einmal rühmen dürfen, das durch seinen
Vorgänger gestörte Gleichgewicht wieder her-
gestellt zu haben. Aber nicht um eine Ergänzung
handelt es sich. Was geschah, war etwas sehr
Mechanisches — eine bloße Auswechslung,
eine Ablösung des Objekts durch das Subjekt,
und das mit einem Ergebnis, das heute, wo wir
das zeitlich Bedingte von dem dauernd Wert-
vollen schon etwas unterscheiden können, doch
einigermaßen fragwürdig anmutet.

Der Grund dafür liegt in der mit der aske-
tischenTendenz desExpressionismus zusammen-
hängenden Maßstablosigkeit der Richtung,
in dem Fehlen jedes normativen Prinzips. Denn
wo das Gefühl entscheidet — wer darf sich
zum Richter über Gefühle aufwerfen? Auch
das Unzulänglichste kann in einer Sphäre, in
der die empirisch gegebene Form als Maßstab
ausdrücklich abgelehnt wird, immer noch als
Ereignis ausgegeben werden. tWozu lernen, wo
es in der Tat nichts zu lernen gibt? Wo alles
der hohen Intuition überlassen bleibt'und von
einem Objekt, an dem der Schüler sich kon-
trollieren kann, nicht mehr die Rede sein darf.
Wo man die Anspruchslosigkeit gegen sich selbst
so weit treibt, daß man dem bloßen Wollen
 
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