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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 61.1927-1928

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Habicht, Victor Curt: Alte Kunst am Mittelrhein: Ausstellung im Hessischen Landesmuseum, Darmstadt 1927
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Ritter, Heinrich: Geschmack und Lebenswirklichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.9249#0037
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+ Llte Kunst am Mittelrhein

Das seltene Siück einer Bemalung auf einem
Grundstein (aus Augustinerkloster Speier) eröff-
net zeitlich verheißungsvoll das reiche Gebiet
der Malerei. Bekannt waren zwar die folgen-
den Etappen: Altarflügel aus der St. Johannis-
kirche, Worms, Friedberger und Scholtener
Altar, aber die Möglichkeit, diese Stationen
unmittelbar verfolgen und vergleichen zu kön-
nen, ist doch von selten hohem Wert. Über-
raschend — farblich und in der starken Vor-
liebe für karikierende Typen — ist der neu-
entdeckte Obersteiner Altar (c. 1410). Dergroße
Unbekannte, Meister der Darmstädter Pas-
sion genannt, um 1450 tätig und in manchen
Zügen wie ein Vorläufer Grünewalds anmutend,
ist gut vertreten. Der leider noch immer nicht
enträtselte Hausbuchmeister und seine Nach-

folger, — nahe an Grünewald herankommend
der Meister der Tafeln 348 und 349 — sind
mit Hauptwerken vorhanden. Unter den kunst-
gewerblichen Arbeiten ragen die herrlichen
Buchdeckel (433 und 434) als ungewöhnlich
aufwendige und geistvolle Arbeiten hervor. Der
Reichtum an Textilien gerade dieser Gegend ist
bekannt. Herrlich in der Erhaltung der leuchten-
den Farben der Bildteppich mit dem Gnaden-
stuhl (513). Werke des Buchdruckes, Wachs-
siegel und Siegelstempel und eine hochinte-
ressante Ausstellung jüdischer Kunstdenkmäler
vervollständigen die reiche Schau, deren gründ-
liche Durchforschung der Wissenschaft neue und
gültige Stützpunkte zur vertieften Beurteilung
unseres deutschen Kulturgutes bieten zu können
verspricht......... Professor v. c. hahicht.

GESCHMACK UND LEBENSWIRKLICHKEIT

von heinrich ritter

Geschmackvoll, geschmacklich, geschmäck-
lerisch — diese drei Adjektive stehen in
unserer Sprache neben einander. Alle drei sind
sie Neubildungen, da sie mit moderner Zivili-
sation zusammenhängen (höchstens das mittel-
alterliche Wort „die füege" hatte einen Sinn,
der

unserem „Geschmack" verwandt war).
Aber die beiden letzten sind Neubildungen aus
jüngster Zeit. Was sind die Bedeutungsunter-
schiede zwischen den drei Worten?

„Geschmackvoll" will sagen, daß einem
Menschen oder einem Werk die Qualität „Ge-
schmack" als erhöhende, wertgebende Eigen-
schaft innewohnt. „Geschmacklich" will sagen,
daß sich die Qualität „Geschmack" in unter-
strichener, betonter Weise vordrängt; es ent-
hält schon ein leises Aburteil. „Geschmäck-
lerisch" endlich will sagen, daß ein Mensch mit
dem Wert „Geschmack" unziemlichen Miß-
brauch treibt, daß er geschmackliche Gesichts-
punkte da anwendet, wo sie nicht hingehören,
daß er mit ihnen ernstlos und falsch verfährt.

Die drei Worte zeigen also an, daß der
Mensch mit der Qualität „Geschmack" sehr
Verschiedenes beginnen kann. Es kann einer
Geschmack haben in dem Sinne, daß er feine
Empfindung für Verhältnisse und Beziehungen
besitzt, Gefühl für Einfügung und Zusammen-
hang, für Form und Wohllaut, Gefühl für das,
was „sich schickt", sei es in sinnlicher Bezieh-
ung, wo es Ordnung in Farben, Formen und
Bewegung erzeugt, sei es in gesellschaftlicher
und sittlicher Beziehung, wo es zum Anstän-
den und Formvollen des Lebens führt. Ge-
schmack kommt ja von „schmecken" und be-

zeichnet „Wohlgeschmack", also ein gleichsam
sinnenhaftes Lustgefühl, das sich an alles an-
hängen kann, was Menschen hervorbringen, an
das Kunstwerk, an Wohnung und Kleidung, an
Auftreten und Handeln, an Denk- und Sinnes-
weise. Geschmack ist in allem, was sich ge-
wissen bestehenden Maßstäben gehorsam
anpaßt und daher als wohllautend, als sinnlich
angenehm empfunden wird. Daher ist ja auch
das eigentlich Produktive, das schöpferischNeue
selten „geschmackvoll", weil es neue, eigene
Maßstäbe mit sich bringt und infolgedessen zu-
nächst nicht jenes gelöste, sinnliche Behagen
spendet, das sich bei Festhaltung gewohnter
Ordnungen einstellt.

Kann „Geschmack" in diesem Sinne als
Quelle feinsten Wohllauts und als hoher Wert
auftreten, so kann er auf der anderen Seite auch
grundfalsch eingesetzt und zur Quelle starken
Unbehagens werden. Das geschieht da, wo
der Sinn für äußeren Wohllaut den Sinn für
das Wesentliche, den Sinn für das Kern-
hafte und Lebendige in den Hintergrund drängt.
Geschmack kann in einer Weise überentwickelt
werden, daß er zur kränklichen Reizbarkeit,
zur Überempfindlichkeit für sinnlichen Mißlaut
wird und damit zu den übrigen Lebenswerten
in ein groteskes Mißverhältnis tritt. Und hier
enthüllt sich, daß Geschmack nie etwas anderes
als eine Qualität zweiten Ranges sein kann
und darf. Zuerst kommt das Lebendige, das
Schöpferische, das Grundlegende; dann erst
die Rücksicht auf Wohllaut und angenehmen
Effekt. Wo diese Ordnung verkehrt wird, tritt
sofort wieder Mißlaut hervor, aber nach der
 
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