Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 61.1927-1928

DOI Artikel:
Ritter, Heinrich: Künstliche Kindlichkeit
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.9249#0238
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Auch im Bereich der bildenden Kunst haben
wir eine große Anzahl von Versuchen erlebt,
eine Tradition nicht durch Fortbildung, sondern
durch den Seitensprung ins Rohe, angeblich
„Natürliche" loszuwerden. Fast nie wird bei
derlei Experimenten bedacht, daß das Natur-
haft-Primitive wohl zur Erfrischung des Über-
lieferten herangezogen werden kann, daß aber
nie das gesamte Erbgut preisgegeben werden
darf. Denn in der realen Menschheit sitzt dieses
Erbgut als sittlich-geistig-zivilisatorische Struk-
tur so unausrottbar fest, daß allzu radikale Vor-
stöße nach dem Rohen hin sofort die Fühlung
mit der übrigen Realität des Zeitalters verlieren.
Gewiß sind Erneuerungen von Zeit zu Zeit not-
wendig. Aber den unüberlegten Rebellionen,
die sich ohne Rückendeckung zu weit vorwagen,
begegnetimmerdasMißgeschick, daß sie zu desto
schrofferen Rückschlägen führen. Sie stellen
im Enderfolg das Gestrige in härterer und geist-
loserer Gestalt wieder her. Erzwungene Kind-
lichkeit bringt weder in der Kunst noch sonst-
wo eine Lösung; auch kein wahres Vorwärts.
Zwar empfinden wir sie eine Zeitlang als „Reiz",

weil sie uns scheinbar einen Augenblick lang von
der Last der Historie und Routine befreit.
Aber die Resultate dieser künstlichen Primitivi-
tät treten nie in eine organische Verbindung mit
dem Kulturgut einer trotz allem erwachsenen
Menschheit. Sie müssen nach kurzem wieder
abgestoßen werden und wandern in den großen
Kehrichthaufen der Weltgeschichte. Die wahre
Erfrischung, das echte Vorwärts kann nicht durch
ein plötzliches Ausbrechen zum Rohen hin
kommen, sondern nur durch eine organische
Fortbildung, die das positiv Neue bringt. Der
radikale Rückgriff auf die Urzustände liefert
demgegenüber bloß das negativ Neue, und da-
mit läßt sich keine Kultur wahrhaft vorantreiben.

Wieder einmal eröffnet sich hier, welch ein
grundlegender Unterschied zwischen der echten
Erneuerung und der bloßen Neologie be-
steht. Die echte Erneuerung wirkt von der
Tiefe her; sie wirkt im Bereich der Gesinnung,
im Bereich der Weltanschauung. Die Neologie
hingegen ändert bloß die Oberfläche, die Ge-
bärde und leitet damit die erneuernden Ten-
denzen auf ein totes Geleise. Heinrich eitter.

226
 
Annotationen