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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 69.1931-1932

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Schmidt, Paul F.: Frontwechsel in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7203#0161
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BENJAMIN GODRON—MÜNCHEN

GEMÄLDE »SCHLAFENDE VENUS«

FRONTWECHSEL IN DER KUNST

Bei der verwirrenden Vielfältigkeit des künst-
lerischen Angebots ist die Schwierigkeit groß,
eine leitende Idee in der Entwicklung zu finden.
Gibt es überhaupt noch einen stilistischen Form-
wandel? Wir wissen es nicht; wahrscheinlich
bildet er sich unter der vielgekrausten Oberfläche
still heraus, nach Jahrzehnten wird man seinen
Weg erkennen. Was in der Gegenwart als das
unvergleichlich Wichtige sich aufdrängt, ist ein
Wandel der Kategorie: an die Stelle formaler
Probleme ist die Sorge um Verständlichkeit ge-
treten, und dies zugleich in beiden möglichen
Richtungen. Die Künstler bemühen sich um Ak-
tualität und Deutlichkeit der Bildinhalte, und die
Kunst der Dilettanten erlebt eine erstaunliche
Blüte. Beides geht auf dieselben sozialen Beweg-
gründe zurück. Es scheint nämlich, daß auch in
der Kunst — oder vielmehr: gerade in der Kunst,
als dem deutlichsten und deutbarsten Spiegel
der Weltbegebenheiten — das Zeitalter des bür-
gerlichen Individualismus einer kollektiv unter-
legten Volkstümlichkeit zu weichen beginnt. Das
ist nicht überall in gleicher Stärke zu erkennen.
Am geringsten ist die Neigung im konservativen
Frankreich, das immer noch seinen spezialisierten
Formträumen nachhängt und die weitergehenden
Versuche des Ostens streng ablehnt; am extrem-
sten in Rußland, das nur kollektivistische Kunst
gelten lassen will und darum im Film das Be-

deutendste leistet (Tretjakows naive Überheb-
lichkeit in Sachen der Literatur hat kürzlich die
Berliner Snobs zu selbstmörderischem Beifall
hingerissen; von bildender Kunst in Rußland
haben wir, außer der tüchtigen, aber etwas ab-
seitigen Fotomontage, keine sehr mitreißende
Vorstellung erhalten). Deutschland hält die aus-
gleichende Mitte inne, und wahrscheinlich wird
es recht behalten.

Hier erleben wir schon seit dem Kriege, der
eine nachdrückliche Zäsur bedeutet, die auffällige
Schwenkung zum Inhaltlichen, die nicht einmal
die expressionistische Revolution im Ernst gewagt
hatte; der Dadaismus gab das aufrüttelnde Signal
dazu. UnabhängigvonformalenUnterschieden geht
es bei uns seitdem um die klare Herausarbeitung
neuer und zeitgemäßer Inhalte. Ob „Neue Sach-
lichkeit" oder malerischer Barock, ob Surrea-
lismus oder Expressionismus: bestimmend für
die Bedeutung der Kunstwerke wird immer mehr
der geistige Gehalt, die soziale, kritische, roman-
tische oder positive Gesinnung und ihr Bekennt-
nis in der Darstellung.

Dies ist eine Zusage an den Geist der Allge-
meinverständlichkeit: es bedeutet die Unterwer-
fung unter das Urteil der Volksgemeinschaft. Die
Kunst will nicht mehr esoterisch sein, sondern
Ausdruck des allgemeinen Volkswillens. Ihre
Werke sollen nicht mehr, wie es zuvor der Fall
 
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