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JEAN-AUGUSTE-DOMINIQUE INGRES.
felbftbewufsten Bürgerthums, das unter der Juliregierung lieh als erften Stand und
als Spitze der Nation fühlte.
So tritt vielfach in Ingres' Porträts das Wefen der Individualität eindring-
lich hervor: wie in Bertin die Stärke voll Saft und Kraft, in Bonaparte der tiefe
Gedanke, in Mole der geiftreiche Gefellfchafter, fo die fanfte Meditation in Cheru-
bim, wie er urfprünglich gemeint und gemalt war. Sonft kann man lieh wohl
nichts Mifslicheres denken als diefen Componiflen im Zeitcoftüm und barhaupt,
aber mit dem klaffifchen Mantel drapirt, wie er mehr muthlos und müde als
nachdenklich dafitzt, und daneben die Mufe in plaflifcher Körperlichkeit, die ihre
Rechte über feine Stirn ausftreckt, als wolle he )>den Genius magnetifirent<. —
Mir fcheint, wir finden hier den inneren Widerfpruch im eigenen Wefen des
Malers unverkennbar ausgefprochen.
Ueberblicken wir die Gefammtheit diefer Werke, fo erfcheint ihre Anzahl
freilich gering für ein halbes Jahrhundert, während deffen der Meifter fleh ge-
funder Arbeitsfähigkeit erfreute; aber der einheitliche Charakter vom Oedipus
bis zur Quelle, die unverbrüchliche Treue, mit der diefelben ernften, ftrengen
Prinzipien von Anfang bis ans Ende feftgehalten find, mufs Refpekt einflöfsen
vor der Fettigkeit feines Glaubens und würde ihm unfere Anerkennung fichcrn,
felbft wenn feine Fehler die Vorzüge überwögen.
Möchten wir jedoch in das Verftändnifs diefer Selbftentfaltung eindringen,
uns womöglich pfychologifch erklären, wie hier Wollen und Können in einander
greift, um diefe und eben nur diefe conftante Erfcheinung hervorzubringen, fo
müffen wir einen Blick auf Ingres' Zeichnungen werfen, die in flattlicher Reihe er-
halten find. Es find Entwürfe zu den ausgeführten oder angefangenen Gemälden
oder jene, in der Zeit der Dürftigkeit zu Rom und Florenz ums tägliche Brot
gearbeiteten, Bleifliftporträts, endlich Studien nach dem Modell, Gewandmotive
und Skizzenblätter aller Art. — Hier, wo er fleh felber beichtet, ohne Schwierig-
keiten der Technik unmittelbar nach der Natur arbeitet, wird er die Eigenart
feiner Auffaffung um fo freier verrathen, feiner perfönlichen Empfindung rück-
haltlos folgen; hier mufs es möglich fein, wenn es fonft nicht einleuchten follte,
die Organifation feiner künfllerifchen Anlage zu faffen.
Die gezeichneten Porträts von Ingres' Hand haben einen ganz befonderen
Charakter und ungewöhnlichen Reiz. Handle es fleh darum, die befeelten For-
men bis in ihre intimflen Details zu modelliren oder nur Nebenfachen anzu-
deuten, foll der Ausdruck des Blickes oder des Mundes wiedergegeben werden,
oder gilt es hier mit feiner Arbeit die Zartheit des Fleifches zu treffen, dort mit
einigen Strichen den Zug der Falten eines Stoffes hinzuwerfen, überall zeigt fleh
fein Stift gleich wahr und frei und beflimmt. Es ift kein Unterfchied als zwifchen
dem Ausfehen einer mehr und einer weniger ausgeführten Arbeit. Selbft dort,
wo die Andeutungen noch fo flüchtig find, beweift etwas Beftimmtes, Accentuir-
tes auf den erften Hieb, ein refolutcr Aufbau der Maffen, dafs der Zufall in
diefen leichten Skizzen keine Stelle hat, und dafs es nur noch des Willens und
der Anftrengung weniger Minuten bedurft hätte, um die angedeuteten Umriffe
JEAN-AUGUSTE-DOMINIQUE INGRES.
felbftbewufsten Bürgerthums, das unter der Juliregierung lieh als erften Stand und
als Spitze der Nation fühlte.
So tritt vielfach in Ingres' Porträts das Wefen der Individualität eindring-
lich hervor: wie in Bertin die Stärke voll Saft und Kraft, in Bonaparte der tiefe
Gedanke, in Mole der geiftreiche Gefellfchafter, fo die fanfte Meditation in Cheru-
bim, wie er urfprünglich gemeint und gemalt war. Sonft kann man lieh wohl
nichts Mifslicheres denken als diefen Componiflen im Zeitcoftüm und barhaupt,
aber mit dem klaffifchen Mantel drapirt, wie er mehr muthlos und müde als
nachdenklich dafitzt, und daneben die Mufe in plaflifcher Körperlichkeit, die ihre
Rechte über feine Stirn ausftreckt, als wolle he )>den Genius magnetifirent<. —
Mir fcheint, wir finden hier den inneren Widerfpruch im eigenen Wefen des
Malers unverkennbar ausgefprochen.
Ueberblicken wir die Gefammtheit diefer Werke, fo erfcheint ihre Anzahl
freilich gering für ein halbes Jahrhundert, während deffen der Meifter fleh ge-
funder Arbeitsfähigkeit erfreute; aber der einheitliche Charakter vom Oedipus
bis zur Quelle, die unverbrüchliche Treue, mit der diefelben ernften, ftrengen
Prinzipien von Anfang bis ans Ende feftgehalten find, mufs Refpekt einflöfsen
vor der Fettigkeit feines Glaubens und würde ihm unfere Anerkennung fichcrn,
felbft wenn feine Fehler die Vorzüge überwögen.
Möchten wir jedoch in das Verftändnifs diefer Selbftentfaltung eindringen,
uns womöglich pfychologifch erklären, wie hier Wollen und Können in einander
greift, um diefe und eben nur diefe conftante Erfcheinung hervorzubringen, fo
müffen wir einen Blick auf Ingres' Zeichnungen werfen, die in flattlicher Reihe er-
halten find. Es find Entwürfe zu den ausgeführten oder angefangenen Gemälden
oder jene, in der Zeit der Dürftigkeit zu Rom und Florenz ums tägliche Brot
gearbeiteten, Bleifliftporträts, endlich Studien nach dem Modell, Gewandmotive
und Skizzenblätter aller Art. — Hier, wo er fleh felber beichtet, ohne Schwierig-
keiten der Technik unmittelbar nach der Natur arbeitet, wird er die Eigenart
feiner Auffaffung um fo freier verrathen, feiner perfönlichen Empfindung rück-
haltlos folgen; hier mufs es möglich fein, wenn es fonft nicht einleuchten follte,
die Organifation feiner künfllerifchen Anlage zu faffen.
Die gezeichneten Porträts von Ingres' Hand haben einen ganz befonderen
Charakter und ungewöhnlichen Reiz. Handle es fleh darum, die befeelten For-
men bis in ihre intimflen Details zu modelliren oder nur Nebenfachen anzu-
deuten, foll der Ausdruck des Blickes oder des Mundes wiedergegeben werden,
oder gilt es hier mit feiner Arbeit die Zartheit des Fleifches zu treffen, dort mit
einigen Strichen den Zug der Falten eines Stoffes hinzuwerfen, überall zeigt fleh
fein Stift gleich wahr und frei und beflimmt. Es ift kein Unterfchied als zwifchen
dem Ausfehen einer mehr und einer weniger ausgeführten Arbeit. Selbft dort,
wo die Andeutungen noch fo flüchtig find, beweift etwas Beftimmtes, Accentuir-
tes auf den erften Hieb, ein refolutcr Aufbau der Maffen, dafs der Zufall in
diefen leichten Skizzen keine Stelle hat, und dafs es nur noch des Willens und
der Anftrengung weniger Minuten bedurft hätte, um die angedeuteten Umriffe