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Dohme, Robert
Kunst und Künstler des Mittelalters und der Neuzeit: Biographien u. Charakteristiken (4,2): Kunst und Künstler der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts — Leipzig, 1886

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Schmarsow, August: Jean-Auguste-Dominique Ingres: geb. zu Montauban 1780, gest. zu Paris 1867
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https://doi.org/10.11588/diglit.36324#0301
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JEAN-AUGUSTE-DOMINIQUE INGRES.

He verband, zu malen, und dafs die moralifche Schönheit ihm als Künhler immer
gleichgültig geblieben. Er verfchmäht wohl gar den Ausdruck offenkundig; die
Form und nur die Form ift fein Ideal. Seine Venus Anadyomene und feine
Quelle find Verherrlichungen des Leibes, durch die Verbindung der erlefenflen
Körperformen, die die Wirklichkeit bietet, erreicht. So fehr wir diefe plaftifche
Schönheit anerkennen, fo mufs doch gefagt werden, dafs feine nackten Frauen
alle abfolut materiell, ja, was die Gehchtsztige betrifft, nicht gerade hnnlich, aber
gewöhnlich, durchaus nicht gewählt find, jeder Spur von Intelligenz, jedes auf-
leuchtenden Strahls in ihrem Blick entbehrend. Wenn er diefe Prototype der
männlichen und weiblichen Schönheit gefchaffen, mufs er nicht einmal bemerkt
haben, dafs er vergeffen, ihnen Seele zu geben.
Darnach kommen wir auch durch eine Prüfung feiner ausgeführten Gemälde
zu der Thatfache, die wir fchon bei feinen Zeichnungen beobachtet: der Schwer-
punkt feines Könnens liegt in der Wiedergabe der Form, der menfchlichen Ge-
halt in nackter Schönheit. Er war fein Leben lang ein verhaltener Realifl; in-
dem er die Natur nachahmte, entzündete hch in ihm eine folche Leidenfchaft
für die körperliche Form, dafs er nicht darüber hinauskam. Er verfolgt he bis
in die niedrighen Details, bezeichnet he mit der ganzen Wärme, die ihm im
Blute liegt, das Höchhe, was er zu leihen vermag, ih eine Apotheofe der Form,
nichts mehr und nichts weniger, ^eine Verherrlichung des nackten Leibes, welche,
die gemeine Sinnlichkeit und jede moderne Lockung verfchmähend, das Leben
des Körpers gletchfam verklärt und zugleich dem Adel des einfachen, auf hch
beruhenden menfchlichen Dafeins feinen vollen Ausdruck giebt."
Er wird nicht müde zu empfehlen, dafs man die Natur refpektire; aber er
fclbh, in feinem Eifer he in fehe Linien zu faffen, er übertreibt he, überhcigt
he, ja er thut ihr zuweilen gar Gewalt an; denn er will, mit ebenfo leidenfchaft-
licher Energie, überall ein Ideales, er fucht überall eine Forderung zu erfüllen,
ohne die es für ihn keine Kunh giebt: Stil. Der Stil ih die Summe feines künh-
lerifchen Wollens. Ihn fucht er in der treuen, realihifchen Wiedergabe des
nackten Leibes zu erreichen, indem er den fattcn Schein der Farbe von der
Wirklichkeit abhreift, die Mannigfaltigkeit der Lokaltöne unterdrückt und nur
noch Rechcnfchaft giebt über das Spiel der Lichter auf dem einheitlichen Grunde
eines monochromen Fleifches. Die Nüancen der Haut werden mit Stillfchweigen
übergangen, der Kopf, die Hände, die Gelenke bieten keine anderen Details als
die von Hell und Dunkel, keine anderen Unterfchiede als die der fehen knochi-
gen Partien und die des weichen Fettpolhers. Selbh das Auge wird verein-
facht, durch das Uebergehen der feinen Verfchicdenheiten vergröfsert, und der
Blick wird minder funkelnd, minder lebhaft. Man darf hch fragen, ob nicht darin
auch die Urfache des humpfen Ausdrucks zu fuchen? — Während Zeichnung
und Modellirung fonh die Natur mit einer Wahrheit wiedergeben, die kaum zu
überbieten ih, bleibt die Farbe hell und kühl, wie in dem klaren Aether einer
olympifchen Sphäre geläutert. Während fein Lehrer David auch die Form nach
einem conventioneilen Canon verallgemeinert und zurecht hutzt, idealihrt Ingres
eigentlich nur, wenn er malt. Allerdings läfst hch nicht leugnen, dafs er hch
einen gewihen Schönheitstypus ausgebildet, dem er in allen nackten Gehalten
 
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