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JEAN-AUGUSTE-DOMINIQUE INGRES.
Wenn die Folgezeit mit feinen Werken auch eine ftrenge Sichtung vorneh-
men wird und, wo es hch darum handelt feine bleibende Bedeutung feflzuflellen,
gar Vieles bei Seite fchieben mufs: feine Einzelhguren in nackter Schönheit, Ge-
walten wie fein Oedipus und die Quelle werden itets ihren Platz in der franzöh-
fchen Kunft behaupten.
Wir dürfen alfo den Unterfchied, den Lenormant für nöthig hielt, etwas
anders wenden, um die heutige Meinung zu treffen, die freilich ihr letztes Wort
noch nicht fprechen kann. Ingres war feiner ganzen Natur und feiner nur dem
Höchffen zugekehrten Richtung nach nicht der Mann, um auf die fortfchritt-
liche Entwicklung der modernen Kunft in unmittelbarer Weife einzuwirken, den
Anflofs zu einer neuen Bewegung zu geben, Schule zu machen und mit fleh
fortzureifsen in ungekannte Bahnen. Aber feine Bedeutung für die Lehre
überhaupt, fein heilfamer Einhufs auf die Schulung, auf die Strenge der Disci-
plin ifl unverkennbar. Alles, was fich lehren, überliefern und anerziehen läfst in
der Kunft, das findet man bei ihm in reichem Mafse, und der unbeirrte Hinweis
auf die höchften Leiftungen aller Zeiten, auf die höchften Aufgaben aller
fchöpferifchen Darftellung können nur dazu dienen, das Gewiffen zu fchärfen und
die Selbftgefälligkeit der kleinen fubjektiven Geifter mit einem einzigen Wink
abzuthun oder dorthin zu weifen, wohin fie gehören.
In diefer Beziehung ift feine Apotheofe Homers eine Art Glaubensbekennt-
nifs, das wir gern refpektiren. Diefe Verherrlichung der Auctorität in der Per-
fon des gröfsten poetifchen Genius des Alterthums, diefe flnnlich einleuchtende
Darftellung der klafhfehen Tradition giebt uns die Summe feiner Lehre und
feines Lebens, giebt uns das Ideal, als deffen Priefter und Apoftel er fleh fühlte.
Des Menfchen Wille ift fein Himmelreich.
Er hat fich, befcheiden genug, als den Letztling der Familie dargeftellt. Ich
kann nicht fehen, dafs die Gefchichte der klafhfehen Tradition der franzöfifchen
Kunft mit ihm abgefchloffen und begraben fei; denn die Vergangenheit ift eine
Thatfache, die wir nicht leugnen, eine Vorausfetzung, die wir nicht hinter uns
abbrechen können. Und — follte Frankreich auf die Anfprüche, die Ludwig
dem Vierzehnten bei der Gründung der römifchen Akademie vorgefchwebt, wirk-
lich verzichten? Dann hätte allerdings Ch. Lenormant Recht: "Tirez le rideau,
et la farce sera joueeR
JEAN-AUGUSTE-DOMINIQUE INGRES.
Wenn die Folgezeit mit feinen Werken auch eine ftrenge Sichtung vorneh-
men wird und, wo es hch darum handelt feine bleibende Bedeutung feflzuflellen,
gar Vieles bei Seite fchieben mufs: feine Einzelhguren in nackter Schönheit, Ge-
walten wie fein Oedipus und die Quelle werden itets ihren Platz in der franzöh-
fchen Kunft behaupten.
Wir dürfen alfo den Unterfchied, den Lenormant für nöthig hielt, etwas
anders wenden, um die heutige Meinung zu treffen, die freilich ihr letztes Wort
noch nicht fprechen kann. Ingres war feiner ganzen Natur und feiner nur dem
Höchffen zugekehrten Richtung nach nicht der Mann, um auf die fortfchritt-
liche Entwicklung der modernen Kunft in unmittelbarer Weife einzuwirken, den
Anflofs zu einer neuen Bewegung zu geben, Schule zu machen und mit fleh
fortzureifsen in ungekannte Bahnen. Aber feine Bedeutung für die Lehre
überhaupt, fein heilfamer Einhufs auf die Schulung, auf die Strenge der Disci-
plin ifl unverkennbar. Alles, was fich lehren, überliefern und anerziehen läfst in
der Kunft, das findet man bei ihm in reichem Mafse, und der unbeirrte Hinweis
auf die höchften Leiftungen aller Zeiten, auf die höchften Aufgaben aller
fchöpferifchen Darftellung können nur dazu dienen, das Gewiffen zu fchärfen und
die Selbftgefälligkeit der kleinen fubjektiven Geifter mit einem einzigen Wink
abzuthun oder dorthin zu weifen, wohin fie gehören.
In diefer Beziehung ift feine Apotheofe Homers eine Art Glaubensbekennt-
nifs, das wir gern refpektiren. Diefe Verherrlichung der Auctorität in der Per-
fon des gröfsten poetifchen Genius des Alterthums, diefe flnnlich einleuchtende
Darftellung der klafhfehen Tradition giebt uns die Summe feiner Lehre und
feines Lebens, giebt uns das Ideal, als deffen Priefter und Apoftel er fleh fühlte.
Des Menfchen Wille ift fein Himmelreich.
Er hat fich, befcheiden genug, als den Letztling der Familie dargeftellt. Ich
kann nicht fehen, dafs die Gefchichte der klafhfehen Tradition der franzöfifchen
Kunft mit ihm abgefchloffen und begraben fei; denn die Vergangenheit ift eine
Thatfache, die wir nicht leugnen, eine Vorausfetzung, die wir nicht hinter uns
abbrechen können. Und — follte Frankreich auf die Anfprüche, die Ludwig
dem Vierzehnten bei der Gründung der römifchen Akademie vorgefchwebt, wirk-
lich verzichten? Dann hätte allerdings Ch. Lenormant Recht: "Tirez le rideau,
et la farce sera joueeR