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Dresdner, Albert
Der Weg der Kunst — Jena, 1904

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https://doi.org/10.11588/diglit.42482#0060
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KUNST UND NATURWISSENSCHAFT

Wir verlangen vom modernen Künstler mit Recht, dass
alle Leistungen der modernen Naturforschung, dass die Er-
gebnisse der Geologie und der Biologie, der Plankton-
forschung, des Darwinismus und der wissenschaftlichen
Photographie in seinen Werken zum Ausdrucke kommen;
ja, er ist es ja gerade, der all diese Ergebnisse aus Wis-
senschaft erst in Leben umsetzen, der sie uns anschau-
lich machen, ihren Sinn und Wert für unser Dasein
deuten, sie für seine Gestaltung verwendbar machen, der
aus den disjecta membra der Wissenschaft eine neue
Form des Lebens erbauen soll. Das ist die Aufgabe, die
der modernen Kunst gestellt ist und um die sie auf
keinen Fall herumkommt, wenn sie eine wahrhaft mo-
derne Kunst werden will. Allein der Strom der neuen
Erkenntnis kam, wie das Hochwasser im Frühling: jäh,
massenhaft, vernichtend, ungeheuer; er entwurzelte die
Künstler und trieb sie hilflos vor sich her. In wenigen
Jahrzehnten waren sie um Jahrhunderte zurückgeblieben;
sie lebten noch immer in der beschränkten Welt des
Raffael und Velasquez, des Ruysdael und Watteau, wäh-
rend die Welt unendlich grösser und reicher geworden
war, während bereits die Berge, die Gletscher, die Ebenen
das Geheimnis ihrer Vergangenheit preisgegeben hatten
und der elektrische Funke die Erde umkreiste. So wurden
die Künstler von der Wissenschaft überrannt, und sie ver-
loren die Kraft, die Natur zu deuten. Nun waren nicht
sie es mehr, sondern es waren andere, vor allem die
Techniker, die die Natur gestalteten — oder vielmehr
verunstalteten, weil sie, von einer rein mechanischen
Auffassung der Natur ausgehend, nur Konstruktionen,
nicht lebendige Organismen schufen. Die wahre Gewalt
 
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