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Durch ganz Italien: Sammlung von 2000 Autotypien italienischer Ansichten, Volkstypen und Kunstschätze (2. Halbband) — Zürich: Verlag von Caesar Schmidt, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.63487#0182
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derjenige auf den Vesuv und die Stadt, hinter der die Campagna
Felice sich hinzieht, bis im Hintergründe die majestätischen Apenninen
emporsteigen.
Unwillkürlich sieht man sich veranlasst, immer wieder, aus
einem solchen Gebäude heraustretend, seine Aufmerksamkeit eine
zeitlang dem Strassenleben zu widmen, das nirgends in Italien so
charakteristisches Gepräge bietet, wie in Neapel, so dass man mit
Recht sagen kann, dass der echte Neapolitaner eigentlich den weit-
aus grössten Teil seines Lebens auf der Strasse zubringt und eigent-
lich nur einer Schlafstätte bedarf -—- wenn er nicht, wie es häufig
genug vorkommt, auch diese auf der Strasse findet. Zwar die
eigentlichen Lazzaroni sind verschwunden; eine strengere Polizei hat
diesen sorglos von der Hand in den Mund lebenden Teil der Bewohner
der schönsten Stadt Italiens so ziemlich ausgerottet, und der Fremde,
den sie durch ihr stetiges Betteln, besonders bei Strandspaziergängen,
allerdings oft in fast unerträglicher Weise belästigten, sieht sich ver-
gebens nach ihnen um — interessant waren sie doch! Auch ihre
Wohnsitze in der oberen Stadt, oft fensterlosen Höhlen gleichend,
haben zum grossen Teil modernen Bauten Platz machen müssen. Aber
dessenungeachtet sucht das Volksleben in Neapel an Lebendigkeil
seinesgleichen. Gemüsehändler und Mineralwasser-Verkäufe-
rinnen (S. 410), Fischhändler, die neben eigentlichen Fischen auch
allerhand Meeresprodukte, vor denen uns grauen würde, Polypen,
Seeigel, Röhrenwürmer etc. als frutti di mare dem begierig nach
solcher billigen Speise verlangenden ärmeren Neapolitaner darbieten,
sie alle wetteifern, ihre Ware anzupreisen, und erfüllen da, wo sie
in grösseren Mengen auftreten, die Luft mit einem nahezu betäubenden
Geschrei. Schon die Jugend beim Morra-Spiel, beim Erraten der Zahl
der blitzschnell ausgestreckten Finger (S. 410), verrät eine Lebendigkeit
der Mimik-, der Gestikulation, der Rede, dass neben diesen kleinen
Neapolitanern unsere bedächtigere nordische Jugend wie einer anderen
Welt entstammend erscheint. Welches Leben aber erst da, wo die
Verkaufsstände einer neben dem anderen sich befinden, wie auf dem
Mercato a Basso Porto (S. 410)! Ein wahrhaft betäubender Lärm,
ein uns undefinierbares Stimmengewirr schallt von allen Seiten, und
wir sind froh, nach kurzer Zeit des Staunens dem ohrenzerreissenden
Lärm wieder zu entgehen. Aber diese südliche Lebhaftigkeit passt
prächtig zur Staffage, zum fast ewig heiteren Himmel Neapels, und wie
ein Klang aus längstvergessener Zeit mutet es uns an, wenn wir bei
einer Wanderung an den so reich ornamentierten Palästen und Kirchen
vorbei plötzlich vor dem Castel nuovo (S. 410) stehen, diesem jetzt
als Kaserne benutzten düsteren, alten Festungsbau aus der Zeit der
Anjous und der spanischen Herrschaft, stimmend zu dem düsteren,
oft blutigroten Farbton, der die Blätter der Geschichte Neapels unter
ihrer Herrschaft charakterisiert. Trotzig treten die gewaltigen runden
Türme an den Seiten hervor, und die schmucklose Front zwischen
den durch sie gedeckten Ecken lässt noch mehr ahnen, dass sie
einem Regime zum Schutz dienen sollten, das in der Furcht der
Unterthanen vor ihren Herrschern seine sicherste Basis zu finden
meinte. Karl I. legte es 1277 an, und Alfons I. baute es weiter
aus. — Im Innern des Schlosshofes erscheint am sehenswertesten
der von Pietro di Martino zum Andenken an den Einzug des eben-
genannten Herrschers errichtete Triumphbogen (S. 417). Er ist
kunsthistorisch interessant als erstes Baudenkmal der Renaissance in
Neapel. Unmittelbar neben dem breitmassigen Wartturm etwas
gedrückt erscheinend, lässt er den kühnen Schwung und die einfache
Grossartigkeit der Antike vermissen, entschädigt aber hierfür durch
Anmut in der Ausgestaltung. Die Verschiedenheit in der Ausführung
der Details ist ein sicherer Beweis dafür, dass dieselben mehreren
aufeinander folgenden Kunstepochen entstammen; teilweise sind sie
von Andrea, einem Schüler Donatellos, und dessen befreienden
Genius ahnen lassend. Besonderer Hervorhebung wert erscheinen
die am Portal angebrachten Bronzereliefs von Guglielmo Monaco
und Isaia von Pisa, zur Verherrlichung der Kriegsthaten Ferdinand I.,

sowie die ornamentale Ausgestaltung des Bogens durch die Säulen,
besonders die dorischen im ersten und die jonischen im dritten Stock-
werk. Der Eingang selbst musste mit Rücksicht auf die Verteidigungs-
fähigkeit der Burg niedriger und schmäler angelegt werden, als für
den Totaleindruck gut ist. Im Innern des Schlosshofes befindet
sich die Kirche Santa Barbara mit einem im Styl der Früh-
renaissance von Giuliano da Majano vorzüglich ausgeführten Haupt-
portal und hoher Fassade.
Nördlich vom Castel kommen wir zu dem grossen, die Form
eines Rechteckes bildenden Platze Largo Medina, auf dem sich
früher die jetzt nach dem Largo San Nicola alla Dogana gebrachte
Fontana Medina (S. 411) erhob. Die an der Westseite des Platzes
stehende Kirche Santa Maria l’Incoronata weist im Innern — ihr
Aeusseres ist zu sehr verdeckt, als dass man zu einem richtigen
Urteil über dasselbe gelangen könnte — interessante, die Krönung
der Königin Johanna I. und ihres zweiten Gemahls, Ludwig von
Tarent, darstellende Fresken auf, die von Nachfolgern Giottos ganz
in dessen Manier gemalt sind.
Der Kirche gegenüber steht der Palast Fondi, eine kleine, aber
auserlesene Gemäldesammlung enthaltend, darunter ein Velasquez
und mehrere Van Dycks. Die Fontana wurde 1595 von Domenico
d’Auria angelegt, von Cosimo Fansaga später vergrössert. Vier
Satyre tragen ein mit Seepferden geschmücktes Muschelbecken, am
dem sich die kraftvolle Gestalt des Meerbeherrschers Neptun erhebt,
in der Rechten den gewaltigen Dreizack haltend, aus dessen Spitzen
Wasserströme entspringen. Die äussere Umfassung des Beckens
weist auf Seepferden reitende Tritonen auf, die zu ihm führenden
Stufen sind durch Löwen flankiert. — Durch die Strada di Roma,
die berühmte Hauptpulsader Neapels, früher Toledo genannt,
21fi Kilometer lang, in der sich, besonders abends, das gross-
städtische Leben in derselben Weise konzentriert, wie in Berlin
„Unter den Linden“, in Wien auf der Ringstrasse, in Paris auf den
Boulevards und in Petersburg auf dem Newski-Prospect, kommt man
zu der Piazza Dante (S. 411) mit dem Standbild des Dichters,
von dem Neapolitaner Tito Angelini und Solari 1872 hergestellt. Es
zeigt Dante in antiker Gewandung, die Rechte auf den Schaft einer
Säule gestützt, die Linke in pathetischer Geberde ausgestreckt, den
Kopf leicht geneigt. Künstlerisch ist es nicht von der Bedeutung,
die einer der erhabensten Dichter Italiens wohl hätte beanspruchen
können. Das im Oval errichtete, einen wirkungsvollen Hintergrund
zu dem Denkmal bildende Gebäude ist das Gymnasium Vittorio
Emanuele; die Bildsäulen, welche das Dach desselben zieren, stellen
die Tugenden dar, durch welche Karl III. sich ausgezeichnet haben
soll. Es sind ihrer nicht weniger als 26 — sie scheinen, nach
dem Urteil der Geschichte zu schliessen, meist dem stillen Veilchen
gleich im Verborgenen geblüht zu haben. Links schliesst sich an
das Gymnasium die Porta Alba, die im Jahre 1632 errichtet und
mit der Bildsäule des hl. Gaetano geschmückt wurde; durch sie
gelangt man in die Strasse de Tribunali. Auf der anderen Seite
kommt man am Nationalmuseum vorbei nach dem Rondell di Capo-
dimonte, dann zum Park des Schlosses, der eine Anzahl herrlicher Aus-
sichtspunkte bietet. — Dem Nationalmuseum gegenüber befindet sich
die der Galleria Vittorio Emanuele in Mailand nachgebildete Galleria
Principe di Napoli, von dem aus man zur Strasse Santa Maria di
Costantinopoli gelangt, an der das Theater Bellini und eine von
Monteverde herrührende Statue des bekannten Opernkomponisten
stehen. — Die Strasse di Quercia führt zu dem Platze Largo Santa
Trinitä maggiore mit der Guglia della Concezione (S. 414),
einer Mariensäule, welche in der Höhe von 30 Meter im Jahre 1747
errichtet wurde. Leider kommt sie wegen der Nähe der den Platz
umgebenden Gebäude nicht recht zur Geltung. Sie ist im Barock-
styl gehalten und in ausserordentlich reicher Weise dekoriert, ein
Werk Bottiglieris, nach oben an Reichtum der Skulpturen stets zu-
nehmend. Sie schaut auf die Jesuitenkirche Gesü nuovo, deren.

Portal, der Mariensäule entsprechend, fast überreiche Dekorationen
aufweist und deren Inneres gleichfalls mit fast überladener Pracht
glänzte, leider aber zum Teil im Jahre 1688 durch ein Erdbeben
zerstört wurde. — Wer nun am Abend, von all dem Schauen der
Kunstgegenstände ermüdet, nun der Natur noch seine Aufmerksam-
keit zuwenden will, der suche einen jener vielen Aussichtspunkte
auf, an denen Neapel so reich ist, wie kaum eine zweite Stadt der
Welt — man könnte fast sagen: Wo man in Neapel Aussicht hat,
da ist sie wunderbar! Aussicht auf die Natur meinen wir natürlich,
nicht solche auf die oft die schönsten Dekorationen verbergende,
mit echt neapolitanischer Sorglosigkeit nur eben vom allergröbsten
Schmutz befreite und zum Trocknen aufgehängte Wäsche! Diese
Aussicht freilich wird einem öfter zu teil, als angenehm! Aber
Stadt und Umgebung bieten der herrlichen Blicke so viele, dass man
darauf verzichten muss, sie anzuführen; ist es doch auch ein viel
höherer Genuss, sie selbst zu finden !
Denjenigen aber, die im unermüdlichen Schauensdrange und
in echt deutscher Gründlichkeit sich verpflichtet fühlen, auch den
Abend noch ihren Studien zu widmen, sei ein Besuch des Theaters
San Carlo vorgeschlagen (S. 390 und 420, Voll- und Seitenansicht).
Lange Zeit war es das grösste und renommierteste Theater Europas,
selbst im Vergleich mit den Pariser Bühnen; jetzt ist es von den
Schaustätten der modernen Grossstädte überflügelt worden, bietet aber
immer noch, besonders im Ballet, ausgezeichnete Leistungen und
besonderes Interesse durch den naiven Enthusiasmus, der bei solchen
die Zuschauer, und zwar nicht etwa nur diejenigen der niederen
Volksklassen, die hier überhaupt nur spärlicher vertreten sind, erfüllt.
Auch das schon genannte Theater Bellini ist zu empfehlen, ebenso
Sannazaro, Sammelplatz der Neapolitaner Aristokratie und Teatro
Nuovo. Viel Vergnügen!
Es gehört stets zu den interessanten Beschäftigungen, das Er-
wachen des Lebens in einer Grossstadt zu beobachten. Hat es sich
erst zu seiner vollen Tageshöhe oder auch nur zu einem Teil der-
selben entwickelt, so ist die Fülle der Details eine so grosse und
überwältigende, dass ein grosser Teil derselben mehr oder weniger
dem Auge des Beschauers sich entzieht. Das aber ist zu beklagen,
denn sie alle zusammen sind nötig, um das eigenartige Gesamtbild
zu entwickeln. Es zeugt von grossem Mangel an Beobachtungsgabe,
das so oft gehörte Wort: Alle Grossstädte sehen einander gleich!
Im Gegenteil, jede derselben weist ihre ganz eigenartige Physio-
gnomie auf, und wie ein menschliches Antlitz durch das Mienenspiel,
so wird die Physiognomie einer Stadt, die Gesamtheit ihrer Strassen
und Plätze belebt durch das Thun und Treiben ihrer Bewohner und
Besucher. Von letzteren eigentlich nur kann in den frühen Morgen-
stunden die Rede sein, von denen, welche aus der Umgegend alles
das herbeischaffen, dessen der Riesenleib der Grossstadt zu seiner
Ernährung bedarf. Sie sind die ersten, welche dem Auge des frühen
Wanderers entgegentreten, im Norden Europas schweigsam, mit
ernsten Mienen, hastig ihren Weg zurücklegend, im Süden und ganz
besonders in Neapel heiter, unter unaufhörlichem Schwatzen, stets
bereit, stehen zu bleiben, sei es, um der eigenen Meinung durch
noch kräftigere Gestikulationen, als sie im Dahinschreiten möglich
sind, Ausdruck zu geben, sei es, um irgend etwas momentan sonder-
bar Erscheinendes mit dem Blick zu erhaschen. (Das beste Buch
über Neapel ist das von W. Wyl [dem leider verstorbenen Kor-
respondenten des „Berliner Tagblattes“], welches das interessante
Volksleben daselbst so treffend schildert, dass jeder Kenner sagen
muss, so ist es, und derjenige, welcher noch nicht dort war, sieht
die Sache so deutlich vor sich, dass er glaubt, dort am Platze zu sein.)
Eine ganze Anzahl Illustrationen des so eigenartigen und in
seinem fremdartigen Reiz so anziehenden Neapolitaner Strassen-
lebens bietet sich unseren Blicken. Da sehen wir den malerisch in
Stufen aufsteigenden Vicolo del Pallonetto in Santa Lucia (S. 417),
natürlich alle Häuserfronten mit der unvermeidlichen Trockenwäsche

Druck : Nationale Verlagsanstai.t (Manz), München.

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