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Dvořák, Max
Idealismus und Naturalismus in der gotischen Skulptur und Malerei — München [u.a.]: Oldenbourg, 1918

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https://doi.org/10.11588/diglit.44912#0110
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tenden Farbigkeit der Gemälde beginnen sich ebenso wie die
Rhythmik, die Raumwirkung und die Dekoration in der
Architektur zu einer größeren Selbständigkeit und zu einer —
jenseits der mittelalterlichen ideellen Einheit stehenden —
allgemeinen künstlerischen Bedeutung zu entwickeln. Nebst
den italianisierenden entstehen auch neue nordische Ideal-
typen, in denen die Abstraktion und Generalisierung
und die mit ihnen sich verbindenden Begriffe der individuellen
Vorzüge weniger auf aprioristischer Begrenzung der Darstel-
lung durch die christlich subjektive und überweltlich be-
dingte Auffassung der Persönlichkeit als auf formalen Mo-
menten beruhten. Und wie die innere Dialektik der neuen
Thesen und Gesichtspunkte in dem gleichzeitigen theologi-
schen und philosophischen Denken immer mehr der mittel-
alterlich einheitlichen und autoritativ absoluten religiösen
Idee gegenüber wirksam zu werden begann, so könnte man
auch von einer solchen Dialektik in der Kunst sprechen,
einer Dialektik der Linien, Formen, Typen und
Probleme, die zwar die große spirituelle Einheit der mittel-
alterlichen Kunst zunächst nicht ganz zu sprengen vermochte,
dennoch aber sie gelockert und den Weg einer neuen Stellung
der Kunst im Kulturleben geebnet hat. Es ist bezeichnend,
daß diese Entwicklung wie die parallele in der Literatur im
Norden zunächst an persönliche Einsicht, an eine
höhere Bildung, an ein besonderes Kennertum
gebunden war und zuerst an Gemälden oder Bildwerken be-
obachtet werden kann, die nicht im festen Verbände mit
dem großen Vermächtnisse der gotischen Kunst, dem archi-
tektonischen Gesamtkunstwerke der kirchlichen Bauten
standen, also an Tafelgemälden, Miniaturen, Einzelstatuen,
bei denen in einer Zeit, wo sich die architektonische Skulptur
und Malerei noch in den Bahnen des transzendenten gotischen
Idealismus weiterentwickelte, für kunstverständige Auftrag-
geber oder vielleicht auch bereits ohne Auftrag als künst-
lerisches Glaubensbekenntnis Werke geschaffen wurden,
denen die neue spezifisch künstlerische Gesetzmäßigkeit
zugrunde lag.1) Es ist kaum ein Zufall, daß von da an bis
x) Vgl. F. Winkler, Der Meister von Flemalle und Rogier van
der Weyden (Straßburg 1913) S. 139.
 
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