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Molsdorf, Wilhelm; Heitz, Paul [Editor]
Einblattdrucke des fünfzehnten Jahrhunderts (Band 12): Die niederländische Holzschnitt-Passion Delbecq-Schreiber [Teil 1] — Straßburg, 1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.21232#0025
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außerordentlich verbreiteten Erbauungsbuches. Aber ent-
gegen der im Vergleich mit den Kupferstichen gemachten
Beobachtung stehen die Darstellungen der Passion auf
einer erheblich höheren Stufe der Vollkommenheit als die
des Speculum. Gleichwohl ist es ganz ausgeschlossen, in
ersteren das Vorbild für die letzteren erblicken zu wollen,
denn die Vorlagen für die Holzschnitte des länger als
ein Jahrhundert überlieferten Bilderkreises des Speculum
boten natürlich die Miniaturen einer Handschrift. Wie
sich aber schon die Beziehungen des Formschneiders
der Passion zu dem Meister von Zwolle und Martin
Schongauer wegen der teilweise bis in das geringste
Detail gehenden Uebereinstimmung nicht auf die An-
nahme gemeinsamer Urtypen zurückführen ließen, eben-
sowenig kann man aus dem gleichen Grunde die Ver-
wandtschaft zwischen Speculum und Passion aus einer
beiden gemeinsamen Quelle herleiten; vielmehr ist auch
in diesem Falle unserem Formschneider die Rolle des
Kopisten zuzuweisen. Daß er gerade den Bilderzyklus
des Speculum als Muster für eine Reihe seiner Blätter
wählte, ist nicht weiter auffallend, denn das Werk war
im Mittelalter ein recht beliebtes Nachschlagebuch, das
ebenso den Predigern eine Fülle von Gedanken, wie den
Künstlern reichen Stoff für kirchliche Darstellungen bot.1
Auch sonst ist im Gebiete des Formschnittes der Einfluß
des Speculum ein fühlbarer, es sei nur beispielsweise an
die Uebernahme einer Reihe von Bildern aus ihm in die
fünfzigblättrige xylographische Ausgabe der Biblia pauperum
erinnert.2 Was nun die Entstehung der xylographischen
Ausgaben des Speculum betrifft, so werden die Holz-
schnitte jetzt allgemein für niederländische Erzeugnisse
ausgegeben, aber selbst bei der ältesten Ausgabe frühe-
stens in das Jahr 1470 verlegt, und somit ist denn
auch die Ansetzung der Passion erst nach dieser Zeit
möglich.

Aber von dieser indirekten Beweisführung ganz ab-
gesehen, spricht der Stil der Zeichnung wie der Umstand,
daß die Blätter mittelst der Presse gedruckt sind, gegen
eine zu frühe Datierung der Passion. Insbesondere be-
rechtigen uns einige charakteristische Erscheinungen in
der Kleidung, die Entstehung nicht vor den achtziger
Jahren des 15. Jahrhunderts zu suchen. Zu diesen
Kriterien rechne ich vornehmlich das Vorkommen der ge-
streiften Tracht, die vom Formschneider mit Schwarz
und Weiß angedeutet ist, ferner die aufgeschlitzten Rock-
ärmel und die bereits recht breit zugeschnittenen Schuh-
sohlen, alles Modeformen, die für eine Entstehung der
Passion in den achtziger oder im Anfang der neunziger
Jahre sprechen. Und damit steht auch die auf dem sicheren

1 Vgl. J. Lutz und P. Perdrizet: Speculum humanae salvationis.
Leipz. 1907, Einleitung-; hier sind nicht weniger als 205 noch nachweisbare
Handschriften aufgeführt.

2 Vgl. P. Heitz und W. L. Schreiber: Biblia pauperum nach dem
einzigen Exemplare in 50 Darstellungen. Straßb. 1903. S. 39.

Blick des Kenners beruhende Datierung Schreibers
um das Jahr 1480 im Einklänge.

Die mehrfache Anlehnung unseres Formschneiders
an Vorlagen, die überwiegend der niederländischen
Richtung angehören, bringt es naturgemäß mit sich, daß
uns aus den Bildern seiner Passion ein kräftiger Hauch
des Geistes jener Schule entgegenweht. Gleichwohl ist
damit noch nicht erwiesen, daß uns in den Blättern nun
auch wirklich die Arbeit eines Niederländers vorliegt, um
so weniger, da ja wenigstens bei einem der Holzschnitte
(Bl. 12) auch der Einfluß Schongauers nachweisbar ist.
Allerdings muß man ohne weiteres zugeben, daß die An-
lehnung an diesen Meister am allerwenigsten bei einem
Niederländer auffallend erscheinen würde, denn infolge
seiner von Rogier van der Weyden stark beeinflußten,
realistischen Auffassung war Schongauer wie kein zweiter
fremder Meister des 15. Jahrhunderts den Niederländern
geistesverwandt, und die Spuren der Rückwirkung seiner
Werke auf das künstlerische Schaffen dieses Volkes sind
ja auch unverkennbar. Insofern will also die Einziehung
des oberdeutschen Stechers in den Kreis der niederländi-
schen Vorbilder nicht viel besagen.

Aber wenn wir auch bei dem Versuche der örtlichen
Bestimmung unserer Passion von der sich unwillkürlich
ergebenden Einwirkung der Vorlage auf die bildliche
Auffassung der Kopie ganz absehen, so enthalten die
Blätter doch eine Reihe von Zügen, die dem niederländi-
schen Holzschnitte jener Zeit eigen sind. Dahin gehören
die gleichmäßigen, kräftigen Umrißlinien der Gestalten,
der runde volle Gesichtstypus mit den außerordentlich
lebhaften Augen sowie die Behandlung des Haares
in langen bandförmigen Strähnen. Besonders eigentüm-
lich ist im Schnitt die Betonung des Schattens am Um-
risse mittelst keilförmiger Striche, wie sie sich nament-
lich an den nackten Beinen Christi finden, wo die Linien-
führung bisweilen fast einem «Sägeblatte» ähnlich wird.1

Aber auch in der Ausführung von Einzelheiten, bei
denen sich unser Formschneider von seinen Vorbildern
unabhängig zeigt, verrät sich die Hand des Niederländers.
Daß das kettenartige Armzeug des einen Schergen auf
der Darstellung der Verhöhnung Christi (Bl. 7) in ganz
ähnlicher Form auf Kupferstichen und Holzschnitten der
burgundisch-vlämischen Schule vorkommt, ist schon früher
bemerkt; ebenso findet sich die turbanartige Kopfbe-
deckung des Hannas (s. Bl. 5) wieder auf einem Blatte
eines gleichfalls niederländischen Kupferstechers, nämlich
des Meisters W*,s und zu der Mütze des Landmanns
Simon vonCyrene (s. Bl. 13) bildet die Kappe des dreschen-

1 Vgl. die Charakteristik des Holzschnittes in den Niederlanden bei P.
Kristelle r: Kupferstich und Holzschnitt in vier Jahrhunderten. Berlin 1905,
S. 80f. und die cUebersicht über die Buchillustration in den Niederlanden und
Deutschland» bei R. Kautzsch: Die Holzschnitte der Kölner Bibel von 1479.
Straßb. 1896. S, 55f.

2 Vgl. die Monographie über diesen Stecher von M. Lehrs. Leipz. 1895.
Taf. 1 (Figur des Aaron).
 
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