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MEMPHIS. DIE PYRAMIDEN.
den Pyramiden. In bequemem Wagen, auf guter Chauffee erreichen wir fie von unferem Gailhöfe
aus in einer voll gemeffenen Stunde. Ein Bcfuch der Pyramiden wird von den Kaircnern oft als
vergnüglicher Sonntagsausflug unternommen, und es gibt wohl kaum eine andere «Fahrt über
Land», die lieh mit dieler an Reiz und Mannigfaltigkeit der Anregungen vergleichen liefsc.
In der Morgenfrühe raffelt der von fchnellen Pferden gezogene Wagen über die eiferne
Nilbrücke, die Kairo mit der fchönen Infel Gezire verbindet. Die letztere mit ihrem Schlöffe und
der fie gen Abend belpülende Stromarm liegen bald hinter uns. Unter lchattigen Lebbachbäumen
führt die gut gehaltene fchnurgerade Kunftftrafse dahin. Das Schlofs und die viceköniglichen,
hoch ummauerten Gärten von Gize bleiben zu unlerer Linken liegen, das faftige Grün der von
Kanälen durchfehnittenen Felder erfreut das Auge, und ein zarter bläulicher Duft verfchleiert den
Werten. Die Luft ift von einer Reinheit und würzigen Frifche, wie fie nur ein ägyptifcher
Wintermorgen bietet. Jetzt reifst auf Minuten der den Horizont umfehwebende Nebelvorhang,
und wie ungeheure, fcharf umriffene Dreiecke flehen die Pyramiden vor unleren Augen. Jetzt
fchliefst die Nebelwand fleh von Neuem; wir fchauen nach links und rechts bald auf waidende
Büffel, bald auf Silberreiherfchwärme, bald auf einen einfamen Pelikan, den von unferem Wagen
aus eine Kugel leicht erreichen würde, bald auf halbnackte Bauern beim Tagewerke und ihre
abfeits vom Wege gelegenen Dörfer. Da erheben fleh zwei grofse weifsliche Adler. Das Auge
folgt ihrem Fluge, und aufwärts lehauend nimmt es wahr, wie die Dünfle mehr und mehr
verfchwinden, das Blau des Himmels heller und heller erglänzt und die Sonne endlich in
ungetrübtem Glänze ihre Strahlen verfendet. Zu diefer Stunde erlchollcn in der Pharaonenzeit
vor den Thoren der Tempel die Loblieder der Priefter auf den als Horuskind fleh erhebenden
Lichtgott, der den Set, den Feind feines Vaters, das Dunkel und feine Genoffen, die Nebel und
Dünfle, beflegt, niedergeworfen, in die Flucht gefchlagen, aber nicht vernichtet und getödtet
hatte; denn zwar ruhte der Kampf während der Dauer des Tages, aber in der Abendftunde begann
er von Neuem und endete zum Nachtheil des Lichtgottes, der feinerfeits fleh in die Unterwelt
zurückzog, um am Morgen des nächften Tages einen neuen Sieg zu erkämpfen. «Des Mannes
Vater ift das Kind». Aus dem Horusknabcn wird der mächtige Sonnengott Ra.
Hell ift es und heifs; vor uns liegen die Pyramiden, unverfchleiert und mit all' den
Befchädigungen, die fie im Lauf der Jahrtaufende erlitten. Jetzt mäfsigen die Pferde ihren eiligen
Lauf, denn der Weg fteigt an und eine Mauer erhebt lieh zu feiner Linken und Rechten. Sie
ward errichtet als Schutzwehr gegen das zweite Gebiet deffelben Gottes, der im Reiche des
Dunkels herrfcht, den dem Leben feindlichen Wiiflenfand. So weit die Einöde lieh ausdehnt,
erftreckt fleh fein Reich; wo Waffer glänzen und Fluren grünen, führt Oliris und der Kreis der
Seinen das Szepter. Wo auch immer das Nafs die Wüfte berührt, erwachfen Kräuter und Bäume.
Als Ofiris, fo erzählt die Mythe, die Gemahlin des Set umarmte, liefs er auf ihrem Lager leinen
Kranz von Honigklee liegen.
Trotz der Mauern pflegt diefe Strecke der Strafse mit Sand bedeckt zu fein. Ein nunmehr
verlaffenes Gafthaus bleibt zu unferer Rechten liegen, der Weg befchreibt einen kühn gefchwungenen
Bogen, und bald halten die keuchenden Pferde auf dem Felfenplateau, das die höchften unter
den Pyramiden trägt.
Wir flehen vor den gröfsten von jenen Menfchenwerken, die wir von den Alten als
«Wunder der Welt» preifen hören. Es ift unnütz, ihre Form zu befchreiben, denn Jeder kennt
die ftereometrifche Figur, der lie den Namen gegeben, und es ift hier nicht der Ort, ihre Malle
in Zahlen auszudrücken. Nur durch den Vergleich mit anderen in unferer Vorftellung gegenwärtigen
MEMPHIS. DIE PYRAMIDEN.
den Pyramiden. In bequemem Wagen, auf guter Chauffee erreichen wir fie von unferem Gailhöfe
aus in einer voll gemeffenen Stunde. Ein Bcfuch der Pyramiden wird von den Kaircnern oft als
vergnüglicher Sonntagsausflug unternommen, und es gibt wohl kaum eine andere «Fahrt über
Land», die lieh mit dieler an Reiz und Mannigfaltigkeit der Anregungen vergleichen liefsc.
In der Morgenfrühe raffelt der von fchnellen Pferden gezogene Wagen über die eiferne
Nilbrücke, die Kairo mit der fchönen Infel Gezire verbindet. Die letztere mit ihrem Schlöffe und
der fie gen Abend belpülende Stromarm liegen bald hinter uns. Unter lchattigen Lebbachbäumen
führt die gut gehaltene fchnurgerade Kunftftrafse dahin. Das Schlofs und die viceköniglichen,
hoch ummauerten Gärten von Gize bleiben zu unlerer Linken liegen, das faftige Grün der von
Kanälen durchfehnittenen Felder erfreut das Auge, und ein zarter bläulicher Duft verfchleiert den
Werten. Die Luft ift von einer Reinheit und würzigen Frifche, wie fie nur ein ägyptifcher
Wintermorgen bietet. Jetzt reifst auf Minuten der den Horizont umfehwebende Nebelvorhang,
und wie ungeheure, fcharf umriffene Dreiecke flehen die Pyramiden vor unleren Augen. Jetzt
fchliefst die Nebelwand fleh von Neuem; wir fchauen nach links und rechts bald auf waidende
Büffel, bald auf Silberreiherfchwärme, bald auf einen einfamen Pelikan, den von unferem Wagen
aus eine Kugel leicht erreichen würde, bald auf halbnackte Bauern beim Tagewerke und ihre
abfeits vom Wege gelegenen Dörfer. Da erheben fleh zwei grofse weifsliche Adler. Das Auge
folgt ihrem Fluge, und aufwärts lehauend nimmt es wahr, wie die Dünfle mehr und mehr
verfchwinden, das Blau des Himmels heller und heller erglänzt und die Sonne endlich in
ungetrübtem Glänze ihre Strahlen verfendet. Zu diefer Stunde erlchollcn in der Pharaonenzeit
vor den Thoren der Tempel die Loblieder der Priefter auf den als Horuskind fleh erhebenden
Lichtgott, der den Set, den Feind feines Vaters, das Dunkel und feine Genoffen, die Nebel und
Dünfle, beflegt, niedergeworfen, in die Flucht gefchlagen, aber nicht vernichtet und getödtet
hatte; denn zwar ruhte der Kampf während der Dauer des Tages, aber in der Abendftunde begann
er von Neuem und endete zum Nachtheil des Lichtgottes, der feinerfeits fleh in die Unterwelt
zurückzog, um am Morgen des nächften Tages einen neuen Sieg zu erkämpfen. «Des Mannes
Vater ift das Kind». Aus dem Horusknabcn wird der mächtige Sonnengott Ra.
Hell ift es und heifs; vor uns liegen die Pyramiden, unverfchleiert und mit all' den
Befchädigungen, die fie im Lauf der Jahrtaufende erlitten. Jetzt mäfsigen die Pferde ihren eiligen
Lauf, denn der Weg fteigt an und eine Mauer erhebt lieh zu feiner Linken und Rechten. Sie
ward errichtet als Schutzwehr gegen das zweite Gebiet deffelben Gottes, der im Reiche des
Dunkels herrfcht, den dem Leben feindlichen Wiiflenfand. So weit die Einöde lieh ausdehnt,
erftreckt fleh fein Reich; wo Waffer glänzen und Fluren grünen, führt Oliris und der Kreis der
Seinen das Szepter. Wo auch immer das Nafs die Wüfte berührt, erwachfen Kräuter und Bäume.
Als Ofiris, fo erzählt die Mythe, die Gemahlin des Set umarmte, liefs er auf ihrem Lager leinen
Kranz von Honigklee liegen.
Trotz der Mauern pflegt diefe Strecke der Strafse mit Sand bedeckt zu fein. Ein nunmehr
verlaffenes Gafthaus bleibt zu unferer Rechten liegen, der Weg befchreibt einen kühn gefchwungenen
Bogen, und bald halten die keuchenden Pferde auf dem Felfenplateau, das die höchften unter
den Pyramiden trägt.
Wir flehen vor den gröfsten von jenen Menfchenwerken, die wir von den Alten als
«Wunder der Welt» preifen hören. Es ift unnütz, ihre Form zu befchreiben, denn Jeder kennt
die ftereometrifche Figur, der lie den Namen gegeben, und es ift hier nicht der Ort, ihre Malle
in Zahlen auszudrücken. Nur durch den Vergleich mit anderen in unferer Vorftellung gegenwärtigen