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KAIRO.
offenbart, fo fpiegelt er fich auch in ihrer politifchen Gefchichte. Dynaftieen und Einzelregierungen
wechfeln mit auffallender Schnelligkeit, und wo findet man in den Annalen des modernen
Orients Königsgefehlechter wie die des Alterthums und Europas? Die Zeit, deren gewaltige
Lawine über alle Dinge hinwegrollt und fie unter ihrer erbarmungslofen Wanderung begräbt,
«el-dahher» oder wie fie fonft die Araber a;crn benennen, «der Wechfel der Nächte», verwüftet
Alles. — Diels traurige Wort ift nirgends wahrer und wird nirgends häufiger vernommen, als
im Morgenlande. «Wifle, o Seele, dafs Alles in der Welt, was aufser Allah ift, hinfällig ift,»
lautet ein Vers, den der heidnifche Araber Lebid ausfprach, und der ihm die Ehre eintrug, in
die Reihe der Dichter des Lsläm, dem er an feinem Lebensende angehörte, aufgenommen zu werden.
Auch die Gefchichtfchreiber fchildern in den künftlerifch durchgearbeiteten Einleitungen ihrer Werke
nicht das Ewige, das fich in den Schickfalen der Völker abfpiegelt, fondern die Vergänglichkeit,
die ihnen bei der Betrachtung aller irdifchen Dinge entgegentritt. An heilige Bauten und Reliquien
pflegt, wie wir mehrfach gezeigt haben, der Sagen bildende Trieb des Volkes nicht feiten Wunder-
wirkungen und Legenden zu knü-
pfen, welche nur fo lange lebendig
bleiben, wie jene beliehen. Gehen
die einen verloren und fallen die
anderen in Trümmer, fo fchwindet
die Sage aus dem Volksbewufst-
fein, erfährt Umdeutungen und
geht endlich völlig verloren, denn
Sage und Legende bedürfen eines
Gegenftandes, an den fie fich
knüpfen, und eines Ortes, an dem
man fie pflegt. Mit den Bauten
aus alter Zeit find auch viele Sagen
verloren gegangen; doch blieben
nicht wenige erhalten; indeffen
find fie meift fo ungeheuerlich
und widerfinnig, dafs ihre Wieder-
holung nur Denjenigen erträglich fcheinen kann, die an fie glauben. Eine der wenigft läppifchen,
die uns bekannt geworden, möge hier Platz finden. Sie wurde Lane, dem tiefen Kenner des kairener
Lebens, erzählt und knüpft fich an das Thor ez-Zuwele oder el-Mutaweli, von dem wir gelprochen
haben (S. 321) und das man für Heilungswunder wirkend und für einen der Aufenthaltsorte des
geheimnifsvollen Oberften aller Weli oder Heiligen hält. Zu der Zahl diefer Letzteren aufgenommen
zu werden, fühlte ein frommer Krämer brennendes Verlangen. Darum wandte er fich an einen
allgemein für heilig gehaltenen Mann mit der Bitte, ihm zu einer Zufammerikunft mit dem Kutb
zu verhelfen. Diefe wurde ihm nach mancherlei Prüfungen in Ausficht geftellt, und zwar mit
dem Geheifs, fich zu dem genannten Thore zu begeben und den Erften, den er aus der ihm
benachbarten Mofchee el-Mu'aijad werde herauskommen fehen, anzuhalten. Der Krämer gehorchte,
und es trat ihm wirklich der Kutb in Geftalt eines ehrwürdigen Greifes entgegen, gewährte leine
Bitte und befahl ihm, den Bezirk ludlich von dem Zuwelc-Thore mit der darb el-Achmar
genannten Strafse in feine Obhut zu nehmen. Sogleich fühlte fich der Krämer als Weli und
empfand, dafs er Einblick in die den anderen Sterblichen verborgenen Dinge befitze. In dem
SÄULENFRAGMENTE.
KAIRO.
offenbart, fo fpiegelt er fich auch in ihrer politifchen Gefchichte. Dynaftieen und Einzelregierungen
wechfeln mit auffallender Schnelligkeit, und wo findet man in den Annalen des modernen
Orients Königsgefehlechter wie die des Alterthums und Europas? Die Zeit, deren gewaltige
Lawine über alle Dinge hinwegrollt und fie unter ihrer erbarmungslofen Wanderung begräbt,
«el-dahher» oder wie fie fonft die Araber a;crn benennen, «der Wechfel der Nächte», verwüftet
Alles. — Diels traurige Wort ift nirgends wahrer und wird nirgends häufiger vernommen, als
im Morgenlande. «Wifle, o Seele, dafs Alles in der Welt, was aufser Allah ift, hinfällig ift,»
lautet ein Vers, den der heidnifche Araber Lebid ausfprach, und der ihm die Ehre eintrug, in
die Reihe der Dichter des Lsläm, dem er an feinem Lebensende angehörte, aufgenommen zu werden.
Auch die Gefchichtfchreiber fchildern in den künftlerifch durchgearbeiteten Einleitungen ihrer Werke
nicht das Ewige, das fich in den Schickfalen der Völker abfpiegelt, fondern die Vergänglichkeit,
die ihnen bei der Betrachtung aller irdifchen Dinge entgegentritt. An heilige Bauten und Reliquien
pflegt, wie wir mehrfach gezeigt haben, der Sagen bildende Trieb des Volkes nicht feiten Wunder-
wirkungen und Legenden zu knü-
pfen, welche nur fo lange lebendig
bleiben, wie jene beliehen. Gehen
die einen verloren und fallen die
anderen in Trümmer, fo fchwindet
die Sage aus dem Volksbewufst-
fein, erfährt Umdeutungen und
geht endlich völlig verloren, denn
Sage und Legende bedürfen eines
Gegenftandes, an den fie fich
knüpfen, und eines Ortes, an dem
man fie pflegt. Mit den Bauten
aus alter Zeit find auch viele Sagen
verloren gegangen; doch blieben
nicht wenige erhalten; indeffen
find fie meift fo ungeheuerlich
und widerfinnig, dafs ihre Wieder-
holung nur Denjenigen erträglich fcheinen kann, die an fie glauben. Eine der wenigft läppifchen,
die uns bekannt geworden, möge hier Platz finden. Sie wurde Lane, dem tiefen Kenner des kairener
Lebens, erzählt und knüpft fich an das Thor ez-Zuwele oder el-Mutaweli, von dem wir gelprochen
haben (S. 321) und das man für Heilungswunder wirkend und für einen der Aufenthaltsorte des
geheimnifsvollen Oberften aller Weli oder Heiligen hält. Zu der Zahl diefer Letzteren aufgenommen
zu werden, fühlte ein frommer Krämer brennendes Verlangen. Darum wandte er fich an einen
allgemein für heilig gehaltenen Mann mit der Bitte, ihm zu einer Zufammerikunft mit dem Kutb
zu verhelfen. Diefe wurde ihm nach mancherlei Prüfungen in Ausficht geftellt, und zwar mit
dem Geheifs, fich zu dem genannten Thore zu begeben und den Erften, den er aus der ihm
benachbarten Mofchee el-Mu'aijad werde herauskommen fehen, anzuhalten. Der Krämer gehorchte,
und es trat ihm wirklich der Kutb in Geftalt eines ehrwürdigen Greifes entgegen, gewährte leine
Bitte und befahl ihm, den Bezirk ludlich von dem Zuwelc-Thore mit der darb el-Achmar
genannten Strafse in feine Obhut zu nehmen. Sogleich fühlte fich der Krämer als Weli und
empfand, dafs er Einblick in die den anderen Sterblichen verborgenen Dinge befitze. In dem
SÄULENFRAGMENTE.