Literatur und bildende Kunst, 1880.
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durch den Dolchstoß in ihr eigenes Herz zu festerer Stellung in der
Phalanx jener Streiter um die Gebilde ihrer Phantasie erstarken
lassen wollte; — ja, daß die milde Schilderung des Unglücks solcher
Verirrung durch den bestattenden Geistlichen „lauten Tadel der
Phantasten erfuhr, welche dieses Opfer dem Tode des Heilandes gleich
gestellt wissen wollten. — Welch' ekelhafter Wahn!" ruft Rauch aus,
den das Geschick des ihm befreundeten Landsmannes tief berührte.
Ihn, den wir aller romantischen Schwärmerei abhold kennen, konnten
solche Vorgänge nur festigen in dem eigenen Standpunkt und wieder
kälter machen gegen die auch in der Kunst von jenseits des Rheines
auf's neue und in neuer Weise andrangende romantische Richtung,
der er, wie wir sehen werden, kurz zuvor in dem Bilde der „Jungfrau
Lorentzen" auch seinerseits „einen Tribut gezollt" hatte.
Gleichwie in der Literatur war auch in den bildenden Künsten
in Frankreich die politische Wandelung vorgedeutet, welche im Jnli-
Königthum Gestaltung gewann. Der theatralische Klassicismus
David's war im Verscheiden. Seine Lebenskraft, die er aus seiucr
Wechselbeziehung zur politischen Bedeutung des zweiten Kaiserreichs
gezogen hatte, erlosch, als Ingres, David's Schüler, dessen äußer-
lichen klassischen Formalismus bemusterte durch die innerlich erfaßte
Schönheit der Antike und der Schöpfungen Rafael's, die er in
seine Studien nach der Natur zu übertragen wußte. Und mehr noch,
als Guericault in schärfstem Gegensatz gegen die in seinem Lehrer
Gusrin fortlebende antikisirende Phrase das akademische Joch ab-
schüttelnd, mit packendem Naturalismus in seinem „Schiffbruch der
Medusa" zur Darstellung der unmittelbaren Gegenwart in einem
nervenerschütternden Ereignisse griff. Das war ganz neu.
Das mit imponirender Kraft auftretende Neue erweckt stets be-
geisterte Anerkennung und zugleich heftigsten Widerspruch. Hier ver-
doppelte sich dieser Gegensatz, da in den Neuerungen Ingres wie
Guorieaults schon zweifach ein Neues vorlag, und so entstand
eiue gewaltige Gährung, die es erklärlich macht, daß aus dem Chaos
widerstreitender und schwankender Meinungen über die Berechtigung
des Idealismus und Naturalismus noch ein Drittes mit sich be-
o
durch den Dolchstoß in ihr eigenes Herz zu festerer Stellung in der
Phalanx jener Streiter um die Gebilde ihrer Phantasie erstarken
lassen wollte; — ja, daß die milde Schilderung des Unglücks solcher
Verirrung durch den bestattenden Geistlichen „lauten Tadel der
Phantasten erfuhr, welche dieses Opfer dem Tode des Heilandes gleich
gestellt wissen wollten. — Welch' ekelhafter Wahn!" ruft Rauch aus,
den das Geschick des ihm befreundeten Landsmannes tief berührte.
Ihn, den wir aller romantischen Schwärmerei abhold kennen, konnten
solche Vorgänge nur festigen in dem eigenen Standpunkt und wieder
kälter machen gegen die auch in der Kunst von jenseits des Rheines
auf's neue und in neuer Weise andrangende romantische Richtung,
der er, wie wir sehen werden, kurz zuvor in dem Bilde der „Jungfrau
Lorentzen" auch seinerseits „einen Tribut gezollt" hatte.
Gleichwie in der Literatur war auch in den bildenden Künsten
in Frankreich die politische Wandelung vorgedeutet, welche im Jnli-
Königthum Gestaltung gewann. Der theatralische Klassicismus
David's war im Verscheiden. Seine Lebenskraft, die er aus seiucr
Wechselbeziehung zur politischen Bedeutung des zweiten Kaiserreichs
gezogen hatte, erlosch, als Ingres, David's Schüler, dessen äußer-
lichen klassischen Formalismus bemusterte durch die innerlich erfaßte
Schönheit der Antike und der Schöpfungen Rafael's, die er in
seine Studien nach der Natur zu übertragen wußte. Und mehr noch,
als Guericault in schärfstem Gegensatz gegen die in seinem Lehrer
Gusrin fortlebende antikisirende Phrase das akademische Joch ab-
schüttelnd, mit packendem Naturalismus in seinem „Schiffbruch der
Medusa" zur Darstellung der unmittelbaren Gegenwart in einem
nervenerschütternden Ereignisse griff. Das war ganz neu.
Das mit imponirender Kraft auftretende Neue erweckt stets be-
geisterte Anerkennung und zugleich heftigsten Widerspruch. Hier ver-
doppelte sich dieser Gegensatz, da in den Neuerungen Ingres wie
Guorieaults schon zweifach ein Neues vorlag, und so entstand
eiue gewaltige Gährung, die es erklärlich macht, daß aus dem Chaos
widerstreitender und schwankender Meinungen über die Berechtigung
des Idealismus und Naturalismus noch ein Drittes mit sich be-