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Falke, Otto von; Lessing, Julius
Kunstgeschichte der Seidenweberei: eine Auswahl der vorzüglichsten Kunstschätze der Malerei, Sculptur und Architektur der norddeutschen Metropole, dargestellt in einer Reihe der ausgezeichnetsten Stahlstiche mit erläuterndem Texte (Band 1) — Berlin, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.19016#0052
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des Mittelalters holte die Anregung zu seinen ornamentalen Schöpfungen größtenteils aus
der Baukunst. Daher herrschen hier die Zierformen plastischer Abkunft, die der Umwand;
lung in reines Flachornament und in die der Weberei notwendige Musterung ohne Ende
widerstreben. Der romanische und gotische Formenschatz, einer plastisch ? tektonischen
Empfindungsweise entsprungen, konnte der Seidenweberei nicht genug bieten, um sie dem
Einfluß des Flachmuster schaffenden Orients zu entziehen. In Byzanz, Spanien und Italien
war die Seidenweberei in enger Berührung und im Wettbewerb mit dem Osten aufgewach?
sen. Der Entwicklungsverlauf und die Handelsinteressen wiesen das Seidengewerbe darauf
hin, im Orient die künstlerische Befruchtung zu suchen, die das Abendland ihm versagte.
Daraus ergab sich bis in die gotische Zeit hinein ein dem ganzen Seidengebiet diesseits und
jenseits des Mittelmeeres gemeinsamer Formenschatz, eine Verwandtschaft in den Muster*
motiven, welche die Scheidung der europäischen von den orientalischen Erzeugnissen außer?
ordentlich erschwert hat. Einer flüchtigen Betrachtung konnte der europäische Seidenstil
vom Zusammenhang mit der abendländischen Kunstentwicklung im Mittelalter fast losge?
löst .erscheinen. Es bedarf einer peinlich genauen Musterprüfung bis in alle Einzelheiten,
um die durch die orientalische Abkunft der Hauptmotive verschleierten Spuren europä?
» ischen Geistes aufzufinden.

Angesichts der Bewunderung, die das Mittelalter den Seidenstoffen entgegenbrachte
und der unendlichen Fülle ornamentaler Bildungen, die sie dem Abendland zutrugen, sollte
man einen starken Niederschlag ihrer Ornamentik in allen anderen Kunstgattungen erwar?
ten, die in der Fläche arbeiten. Schon im 5. Jahrhundert war die Verwendung seidener
Gewebe in der christlichen Kirche üblich, zunächst nicht für die liturgischen Gewänder,
sondern für die festliche Ausstattung des Gotteshauses. Die ausführlichen Berichte des
Liber pontificalis über die Textilschenkungen der Päpste des 8. und 9. Jahrhunderts geben
eine Vorstellung von den Massen ganzseidener oder mit Seidenstücken besetzter Stoffe, deren
damals die römischen Kirchen für die Bekleidung der Altäre und Heiligengräber, für die
Wandbekleidung im Chor und für die Vorhänge zwischen den Säulen des Kirchenschiffes
und der Altarciborien bedurften. Dem Beispiel Roms folgten die Kirchen allerwärts nach
ihren Mitteln. An der eindrucksvollsten und feierlichsten Schaustellung hat es also den
Seidengeweben von früh auf nicht gefehlt. In der Tat sind Entlehnungen von Seidenmustern
in der Buch? und Wandmalerei, in der Hintergrundverzierung von Glasgemälden, in vor?
gotischen Stickereien und Wirkteppichen nicht selten nachzuweisen. Am häufigsten finden
sie sich in Mosaikfußböden und namentlich in romanischen und frühgotischen Fußböden
aus Tonfliesen, weil die letzteren gleich der Weberei aus technischen Gründen auf wieder?
kehrende Rapportmuster angewiesen waren. Dennoch ist es zu einer dauernden und durch?
greifenden Beeinflussung der europäischen Flächenkünste durch die Seidenweberei nie ge?
kommen, weil auch hier die tektonische Empfindung des Abendlands hemmend im Weg
stand.

Von der Mitte des 14. Jahrhunderts an mehren sich in der Tafelmalerei die deutlichen
Darstellungen gemusterter Stoffe, erst in Italien, dann auch in Deutschland und den Nieder?
landen, wo der spätgotische Realismus die Stoffmalerei bis zur täuschenden Wiedergabe der
Textur ausbildet. Es kommt zwar vor, daß gelegentlich ein alter Stoff in einer Malerwerk?
statt als Modell benutzt wurde; als Regel ist aber doch die Darstellung gleichzeitiger Muster
anzunehmen. Damit ist wenigstens für das späte Mittelalter noch ein ausgiebiges und zu?
verlässiges Hilfsmittel der Textilkunde gewonnen.

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