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Die beiden Brüder.
alle Beeren, die er sah, in seinen Korb und ging, hastig danach
suchend, weiter. Da kam ihm sein Bruder jauchzend entgegen und
fiel ihm um den Hals und küßte ihn.
Er aber stieß ihn mürrisch zurück und schalt: „Schrei' nicht so
— der Förster könnte uns bemerken und uns aus dem Walde jagen!
Sammle lieber Beeren in Dein leeres Körbchen — sonst meinen die
Eltern, ich hätte die meinigen gegessen und Dir die Deinen ge-
nommen; denn Du bist ja immer der Brave!"
„Ich werde ihnen schon die Wahrheit sagen!" lächelte Hans
vergnügt und sprang davon.
Nach einem Vierteljahrhundert machte sich der Zwerg auf,
nach den Brüdern zu sehen. Da er erfuhr, daß ihre Eltern tobt
und sie selbst in die Stadt gezogen seien, ging er dorthin.
•\
Der Gefragte zog ehrfürchtig den Hut und wies auf ein
prächtiges Hans mit Marmorsäulen.
Verwundert trat der Zwerg dort ein und konnte — obwohl j
er doch schon viel Reichthnm gesehen — gar nicht genug staunen
über den verschwenderischen Prunk, der hier herrschte. Endlich ge-
langte er durch eine große Reihe feiner Damen und Herren, die alle
hier auf Audienz zu warten schienen, zu dem Gebieter all' dieses
Glanzes.
Ja, er trug noch die graue Brille! Sonst war aber nichts
mehr von dem armen Holzhauersohn an ihm zu bemerken. Er
war nobel gekleidet, behäbig und feist, und trug ein großes, goldenes
Schwein an goldener Kette um den Hals. So stand er vor seiner
Schreibmaschine.
„Ha, Schurke!" schrie er den Bedienten an, der den Zwerg
hereinführte, „siehst Du nicht die Schaaren von Verlegern, die sich
schon um die Ehre raufen, meinen neuen Roman, „Memoiren eines
Kanalräumers", herausgeben zu dürfen — bringst Du jetzt endlich
das Schnapsbrudermodell mit der rothen Nase!"
Der Zwerg fuhr entrüstet nach seiner Nase; sie hatte ihre Farbe
ja nur vom Winterfrost. Da plötzlich — erkannte ihn Franz. Er
lachte höhnisch, daß das Schwein auf seinem Bäuchlein hüpfte.
„Dein Fluch", sagte er, „hat sich nicht erfüllt: Deine graue Brille
hat mir Ehre und Reichthum gebracht; denn ich bin durch sie
— realistischer Schrift st eller geworden! . . Werft ihn
hinaus!"
Im nächsten Augenblick lag der Zwerg am Fuße einer Hinter-
treppe und rieb sich die Knochen.
Betrübt stand er auf, schlich sich weg und frug nach Hans;
— aber Alle schüttelten verwundert die Köpfe.
So kam er nach endloser Wanderung sehr ermüdet an die
letzten Häuser der Stadt hinaus, wo er noch einmal einen alten
Briefträger frug.
„Ach", sagte der, „da kommen Sie nur mit mir — hier im
fünften Stock wohnt er — ich muß leider auch hinauf!"
Sie keuchten in der baufälligen Miethskaserne mühsam über
viele schiefe, finstere Treppen. Endlich klopfte der Briefbote an einer
Thüre und schob auf das schwache „Herein!" von innen wortlos
ein ganzes Bündel Briefe hinein, worauf er brummend wieder
hinunterpolterte.
Jetzt war der Zwerg mit Hans allein.
Der lag bleich und abgezehrt im Bett; aber durch die rosige
Brille lächelte er freundlich dem Besucher entgegen, den er gleich
erkannte. „Sei mir willkommen, lieber Waldzwerg!" sagte er mit
verklärter Stinune. „Du bringst mir noch einmal Grüße aus der
tannenrauschenden Heimath, aus der glückseligen Jugendzeit!"
„Aber", stammelte der Zwerg erschrocken, „hat Dir denn meine
Gabe nicht Glück, Ehre und Reichthum gebracht?"
„Ach nein!" seufzte Hans. „Du siehst: mir fehlt schon das
Nöthigste! Es ist Alles im Pfandhaus! Das Zimmer ist nicht
heizbar — darum muß ich das Bett behalten, denn mich friert
immer so! Meine letzten Pfennige hat das Porto verschlungen;
jedoch die Verleger und Zeitungen" — er deutete nach dem eben
angekommenen Bündel von Briefen — „nehmen nichts! Es kommt
Alles wieder zurück! Jetzt aber — jetzt schreibe ich an einem Epos
— das, liebes Waldmännlein, wird mir den verheißenen Ruhm
bringen!"
Seine zitternden Finger griffen nach den Blättern auf seinen
Knieeu — ein sonniger Blick leuchtete noch einmal durch die rosigen
Gläser; dann erlosch er und — Haus war tobt.
„0 weh", rief der Zwerg verzweifelnd, „wie konnte ich Dich
Die beiden Brüder.
alle Beeren, die er sah, in seinen Korb und ging, hastig danach
suchend, weiter. Da kam ihm sein Bruder jauchzend entgegen und
fiel ihm um den Hals und küßte ihn.
Er aber stieß ihn mürrisch zurück und schalt: „Schrei' nicht so
— der Förster könnte uns bemerken und uns aus dem Walde jagen!
Sammle lieber Beeren in Dein leeres Körbchen — sonst meinen die
Eltern, ich hätte die meinigen gegessen und Dir die Deinen ge-
nommen; denn Du bist ja immer der Brave!"
„Ich werde ihnen schon die Wahrheit sagen!" lächelte Hans
vergnügt und sprang davon.
Nach einem Vierteljahrhundert machte sich der Zwerg auf,
nach den Brüdern zu sehen. Da er erfuhr, daß ihre Eltern tobt
und sie selbst in die Stadt gezogen seien, ging er dorthin.
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Der Gefragte zog ehrfürchtig den Hut und wies auf ein
prächtiges Hans mit Marmorsäulen.
Verwundert trat der Zwerg dort ein und konnte — obwohl j
er doch schon viel Reichthnm gesehen — gar nicht genug staunen
über den verschwenderischen Prunk, der hier herrschte. Endlich ge-
langte er durch eine große Reihe feiner Damen und Herren, die alle
hier auf Audienz zu warten schienen, zu dem Gebieter all' dieses
Glanzes.
Ja, er trug noch die graue Brille! Sonst war aber nichts
mehr von dem armen Holzhauersohn an ihm zu bemerken. Er
war nobel gekleidet, behäbig und feist, und trug ein großes, goldenes
Schwein an goldener Kette um den Hals. So stand er vor seiner
Schreibmaschine.
„Ha, Schurke!" schrie er den Bedienten an, der den Zwerg
hereinführte, „siehst Du nicht die Schaaren von Verlegern, die sich
schon um die Ehre raufen, meinen neuen Roman, „Memoiren eines
Kanalräumers", herausgeben zu dürfen — bringst Du jetzt endlich
das Schnapsbrudermodell mit der rothen Nase!"
Der Zwerg fuhr entrüstet nach seiner Nase; sie hatte ihre Farbe
ja nur vom Winterfrost. Da plötzlich — erkannte ihn Franz. Er
lachte höhnisch, daß das Schwein auf seinem Bäuchlein hüpfte.
„Dein Fluch", sagte er, „hat sich nicht erfüllt: Deine graue Brille
hat mir Ehre und Reichthum gebracht; denn ich bin durch sie
— realistischer Schrift st eller geworden! . . Werft ihn
hinaus!"
Im nächsten Augenblick lag der Zwerg am Fuße einer Hinter-
treppe und rieb sich die Knochen.
Betrübt stand er auf, schlich sich weg und frug nach Hans;
— aber Alle schüttelten verwundert die Köpfe.
So kam er nach endloser Wanderung sehr ermüdet an die
letzten Häuser der Stadt hinaus, wo er noch einmal einen alten
Briefträger frug.
„Ach", sagte der, „da kommen Sie nur mit mir — hier im
fünften Stock wohnt er — ich muß leider auch hinauf!"
Sie keuchten in der baufälligen Miethskaserne mühsam über
viele schiefe, finstere Treppen. Endlich klopfte der Briefbote an einer
Thüre und schob auf das schwache „Herein!" von innen wortlos
ein ganzes Bündel Briefe hinein, worauf er brummend wieder
hinunterpolterte.
Jetzt war der Zwerg mit Hans allein.
Der lag bleich und abgezehrt im Bett; aber durch die rosige
Brille lächelte er freundlich dem Besucher entgegen, den er gleich
erkannte. „Sei mir willkommen, lieber Waldzwerg!" sagte er mit
verklärter Stinune. „Du bringst mir noch einmal Grüße aus der
tannenrauschenden Heimath, aus der glückseligen Jugendzeit!"
„Aber", stammelte der Zwerg erschrocken, „hat Dir denn meine
Gabe nicht Glück, Ehre und Reichthum gebracht?"
„Ach nein!" seufzte Hans. „Du siehst: mir fehlt schon das
Nöthigste! Es ist Alles im Pfandhaus! Das Zimmer ist nicht
heizbar — darum muß ich das Bett behalten, denn mich friert
immer so! Meine letzten Pfennige hat das Porto verschlungen;
jedoch die Verleger und Zeitungen" — er deutete nach dem eben
angekommenen Bündel von Briefen — „nehmen nichts! Es kommt
Alles wieder zurück! Jetzt aber — jetzt schreibe ich an einem Epos
— das, liebes Waldmännlein, wird mir den verheißenen Ruhm
bringen!"
Seine zitternden Finger griffen nach den Blättern auf seinen
Knieeu — ein sonniger Blick leuchtete noch einmal durch die rosigen
Gläser; dann erlosch er und — Haus war tobt.
„0 weh", rief der Zwerg verzweifelnd, „wie konnte ich Dich
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Die beiden Brüder"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum (normiert)
1896 - 1896
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 104.1896, Nr. 2650, S. 180
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg