Fliegende Blätter (139.1913 (Nr. 3545-3570))

ihre Freude, ihr Streben, Soffen und Verlangen nannte er töricht und zwecklos,
denn der erste Schritt in's Leben fei auch schon der erste Schritt zum Tode.

Diese seine Lehren nun hatte der Philosoph in langjähriger Arbeit nieder-
geschrieben und jetzt, nachdem er endlich sein Werk abgeschlossen hatte, überreichte er
es mit einer schwungvollen lvidinung seinein Fürsten.

Nach einiger Zeit ließ der Fürst den Philosophen zu sich rufen und begann: „Ich

habe Deine Schrift mit Aufmerkfamleit gelesen und bewundere die Tiefe und Weis- f
heit Deiner Gedanken, llm so mehr betrübt es mich, daß ich Dir etwas Schlimmes
sagen muß. Durch die Unvorsichtigkeit eines Sklaven ist Deine Schrift verbrannt —
in Flammen aufgegangen I"

Da fuhr der Weise wie von einem heftigen Schlage getroffen jäh empor und laut
klagend rief er: „G, mein Fürst, so ist die Arbeit meines ganzen Lebens vernichtet in

einem Augenblick, die Spuren meines Geistes, die ein ganzes Volk leiten sollten, ver-
nichtet von einem elenden Sklaven! ©, mein Fürst, wie schlimm und traurig ist das!"

Da gab der Fürst ein Zeichen und ein Sklave trat ein. Er trug eine Rolle in
der lhand. Und der Fürst sagte: „lhier ist Deine Schrift, Du weiser Mann, — sie ist
nicht verbrannt. Ich wollte an Dir selber prüfen, was Deine Lehren wert sind.

Also: — Alles gilt Dir nichts, aber Dein Werk gilt Dir so viel! Nimm Deine
Schrift und geh' I"

Da schlich der Philosoph gebeugten ksauxtes von dannen. Er ging in sein ein-
sames Daus und entzündete ein Feuer. Und langsam zerriß er seine Schrift und
zögernd warf er die Blätter in die Flammen. :iibm noderich.

Verantwortlicher Redakteur: I. Schneider in München. — Verlag von Braun & Schneider in München. — In Österreich-Ungarn für Heraus^
u. Redaktion verantwortlich: Oskar Lechner in Wien I. — E. Mühlthaler's Buch- u. Kunstdruckerei A.G. in München. — Hierzu das Beil'l^