Praxiteles.
Ein Reicher setzte zehn Talente Gold
Zu einem Standbild aus am Markt Athens,
Die Göttin, die der Stadt den Namen gab,
Zu ehren — und der gute Tantalos,
In Marmor Meister wie im edlen Erz,
Schuf von Athenes herrlicher Gestalt
Ein trefflich Bildnis. Noch verbarg es neidisch
Der Schleier dicht umhüllendes Gewebe.
Doch als das ganze Volk versammelt war
Und würdevoll der Rat es eingeweiht,
Da fiel der Mantel. Die Trompeten klangen.
„Heil!“ rief die Menge, drängte sich heran
Und sah bewundernd, dies und jenes lobend,
Die göttliche Gestalt. Ja, von den Frauen
Verwand manch eine nimmer das Gelüste
Und prüfte heimlich mit geschwindem Finger
Den Faltenwurf; denn so natürlich war
Der weiche Stoff in sprödem Stein geformt.
Da plötzlich wies ein schneller Finger aufwärts.
Dann zwei und drei. Drauf folgten dutzend Hände.
„Seht! Seht!“ rief’s rings, halb lachend, halb entsetzt.
Zum Himmel blinzelte manch Auge scheu,
Ob nicht die Göttin zürnend niederschaue.
Doch wusste man sich vor ihr sicher, stiess
Eins schmunzelnd seinen Nachbarn an: „Da sieh!“
Und alle gafften sie und starrten staunend
Und glaubten, sich zu täuschen. — Nein, wahrhaftig,
Es war kein Irrtum: Auf der Göttin Nase,
Der schöngebildeten, sass an der Spitze
Ein Wärzchen. „Ja!“ rief eins dem andern zu.
„’s ist eine Warze! Nachbar!“ — „Eine Warze!“
Bald war die nächste Staffelei zur Hand,
Auf der die Ratsherrn — einer um den andern
Hinaufstieg und, wenn er herunterkam,
Bedenklich, stirnerunzelnd sprach: „Fürwahr!
’s ist eine Warze!“ . . . Man rief Tantalos,
Der aus dem Kreis glück wünschender Verehrer
Bedächtig, ohnp Ahnung nähertrat.
„Wie, Meister“ — sagte da kopfschüttelnd zu ihm
Der Ratsherrn Ältester — „was ficht Dich an?!
Verspottest Du die hehre Göttin so
Und so zugleich die teure Vaterstadt
Und rufst auf sie und Dich Athenes Zorn ?!“ —
„Ich?!“ fragte Tantalos. „Wodurch denn ich?!“
„Ach!“ rief der Ratsherr ärgerlich. „Du Heuchler!
Was machst Du denn die Warze auf die Nase?!“ —
„Ich eine Warze auf Athenes Nase?!“
Er sah den andern an, als wollt’ er sagen:
„Du hast wohl schon genug vom Zypernfestwein?!“
Wie aber der und alle drauf beharrten,
Klomm Tantalos die Staffelei hinauf,
Sah — sah — sah wieder, stieg herab und weinte.
Da schlug dem Schelm, der diesen Scherz verbrochen,
Dem übermütigsten von seinen Schülern,
Der nachts geheim den Unfug unternommen —
Da schlug dem lockeren Praxiteles
Laut das Gewissen. Mit gesenktem Blick
Trat er hervor und stammelte: „Vergib!
Ich hab’s getan!“ . . . Die Ratsherrn und die Menge
Umringten zornergrimmt den kecken Jüngling
Und hundert Stimmen riefen auf ihn ein:
„Schämst Du Dich nicht, Du undankbarer Schüler?!
Sieh Deinen Meister, wie er bitter weint,
Weil Du sein Werk, Athene — so verunehrt!“
Bleich und zerknirscht stand längst Praxiteles.
Doch Tantalos, den Tadlern allen wehrend
Und heftig mit dem Kopfe schüttelnd sprach:
„Nein, Freunde, nicht um die Athene heul’ ich —
Sie macht ein andrer leicht um vieles besser.
Aus Freud’ und Neid heul’ ich um seine Warze!
Der Teufelskerl! Ich wollt’, ich hätt’ s’ gemacht!“
H.
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Ein Reicher setzte zehn Talente Gold
Zu einem Standbild aus am Markt Athens,
Die Göttin, die der Stadt den Namen gab,
Zu ehren — und der gute Tantalos,
In Marmor Meister wie im edlen Erz,
Schuf von Athenes herrlicher Gestalt
Ein trefflich Bildnis. Noch verbarg es neidisch
Der Schleier dicht umhüllendes Gewebe.
Doch als das ganze Volk versammelt war
Und würdevoll der Rat es eingeweiht,
Da fiel der Mantel. Die Trompeten klangen.
„Heil!“ rief die Menge, drängte sich heran
Und sah bewundernd, dies und jenes lobend,
Die göttliche Gestalt. Ja, von den Frauen
Verwand manch eine nimmer das Gelüste
Und prüfte heimlich mit geschwindem Finger
Den Faltenwurf; denn so natürlich war
Der weiche Stoff in sprödem Stein geformt.
Da plötzlich wies ein schneller Finger aufwärts.
Dann zwei und drei. Drauf folgten dutzend Hände.
„Seht! Seht!“ rief’s rings, halb lachend, halb entsetzt.
Zum Himmel blinzelte manch Auge scheu,
Ob nicht die Göttin zürnend niederschaue.
Doch wusste man sich vor ihr sicher, stiess
Eins schmunzelnd seinen Nachbarn an: „Da sieh!“
Und alle gafften sie und starrten staunend
Und glaubten, sich zu täuschen. — Nein, wahrhaftig,
Es war kein Irrtum: Auf der Göttin Nase,
Der schöngebildeten, sass an der Spitze
Ein Wärzchen. „Ja!“ rief eins dem andern zu.
„’s ist eine Warze! Nachbar!“ — „Eine Warze!“
Bald war die nächste Staffelei zur Hand,
Auf der die Ratsherrn — einer um den andern
Hinaufstieg und, wenn er herunterkam,
Bedenklich, stirnerunzelnd sprach: „Fürwahr!
’s ist eine Warze!“ . . . Man rief Tantalos,
Der aus dem Kreis glück wünschender Verehrer
Bedächtig, ohnp Ahnung nähertrat.
„Wie, Meister“ — sagte da kopfschüttelnd zu ihm
Der Ratsherrn Ältester — „was ficht Dich an?!
Verspottest Du die hehre Göttin so
Und so zugleich die teure Vaterstadt
Und rufst auf sie und Dich Athenes Zorn ?!“ —
„Ich?!“ fragte Tantalos. „Wodurch denn ich?!“
„Ach!“ rief der Ratsherr ärgerlich. „Du Heuchler!
Was machst Du denn die Warze auf die Nase?!“ —
„Ich eine Warze auf Athenes Nase?!“
Er sah den andern an, als wollt’ er sagen:
„Du hast wohl schon genug vom Zypernfestwein?!“
Wie aber der und alle drauf beharrten,
Klomm Tantalos die Staffelei hinauf,
Sah — sah — sah wieder, stieg herab und weinte.
Da schlug dem Schelm, der diesen Scherz verbrochen,
Dem übermütigsten von seinen Schülern,
Der nachts geheim den Unfug unternommen —
Da schlug dem lockeren Praxiteles
Laut das Gewissen. Mit gesenktem Blick
Trat er hervor und stammelte: „Vergib!
Ich hab’s getan!“ . . . Die Ratsherrn und die Menge
Umringten zornergrimmt den kecken Jüngling
Und hundert Stimmen riefen auf ihn ein:
„Schämst Du Dich nicht, Du undankbarer Schüler?!
Sieh Deinen Meister, wie er bitter weint,
Weil Du sein Werk, Athene — so verunehrt!“
Bleich und zerknirscht stand längst Praxiteles.
Doch Tantalos, den Tadlern allen wehrend
Und heftig mit dem Kopfe schüttelnd sprach:
„Nein, Freunde, nicht um die Athene heul’ ich —
Sie macht ein andrer leicht um vieles besser.
Aus Freud’ und Neid heul’ ich um seine Warze!
Der Teufelskerl! Ich wollt’, ich hätt’ s’ gemacht!“
H.
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Praxiteles"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsdatum
um 1918
Entstehungsdatum (normiert)
1913 - 1923
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 150.1919, Nr. 3851, S. 197
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg