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Die Glöcknerstochter von Gt. Marien.

von Walter Siet>ert-£emän.

I.

Da sitzt er emsig vor dem Buche, höhnisch lächelnd, und blättert
mit seinen dünnen Knochensingern wieder ein Blatt um.

„lsu, wie vergilbt das ist," meint er, „es wird Zeit, daß ich
Dich hole, Thomas Moser; da hast Du nun gesessen Dein Leben
lang und dientest getreulich der heiligen Jungfrau. Jetzt geht es
Dir wie jedem anderen, alter Moser, jetzt kommst Du in mein Reich I"

Lr schließt das Buch, steht auf und nimmt die Sense zur ksand,
um sie vom letzten Gange zu putzen, viele Scharten sind darin,
der Griff ist stark abgenutzt — Zeichen vieler Arbeit. Bald blitzt
die Klinge im Mondenschein wie reines Silber und befriedigt hält
er in der Arbeit inne; denn er vernimmt fernes Flügelschlagen, das
schnell näher und näher kommt. Richtig, das sind ja seine sechs
Gesellen, die jetzt heimkehren mußten, ehe es zwölf schlägt. Lin
starker Luftzug fährt durch sein schwarzes, dünnes Gewand, und
fröstelnd hüllt er sich fester darin ein. Dann krächzt es einigemal
über ihni, Schatten senken sich herunter, und gleich darauf sitzen
auf dem Buche sechs kohlschwarze Raben. Jeder kani aus einer
anderen Gegend und berichtet jetzt ausführlich darüber, um sofort
neue Aufträge zu erhalten. Liner nach dem anderen erhebt sich
wieder in die Lüfte und als es zwölf schlägt, fliegt der Tod selbst
als letzter von dannen nach St. Marien ins Turmstübchen.

II.

Majestätisch steht der aus großen, ungefügen Feldsteinen erbaute
viereckige Turm der alten Klosterkirche da und läßt den wind um
seine Lckcn pfeifen. Die kleine Tür, durch die man unten in den
Turm gelangt, knarrt entsetzlich. Der Sturm tobt auch heute zu
stark und kümmert sich nicht uni alte, gebrechliche Gegenstände,
was nicht hält, wird von ihm zerrissen, umgeworfen oder fort-
geweht. wirbelnd fliegt der Staub auf der schmalen, fast endlosen
Turmtrcppe umher und knarrend bebt das morsche Lfolz unter der
Last des lvinddrucks, als wenn Riesen die Treppe erstiegen.
Klatschend schlagen oben die dicken Glockcntaue an die kalten
Steinwände und prallen wieder an die Glocken zurück, diesen einen
leisen Ton entlockend. Fast winselnd klingt es, als wenn sie sich
über die Gewalt des Sturmes beklagten. Allerlei Getier sitzt
frierend, aber friedlich nebeneinander auf den alten Balken, sich
gegenseitig wärmend — eine furchtbare Rächt.

Plötzlich aber kommt Bewegung in den Schwarm der Tiere
und wild durcheinander fliegen sie durch den obersten Raum, laut
krächzend und schreiend. Linige suchen ängstlich durch die Fenster-
spalten zu entkommen, werden vom Sturm erfaßt und in die Nacht
hinausgeschlcudert. Dann aber huscht eine schwarze Gestalt über
das Geländer und nähert sich der Tür zum Turmstübchen, die sich
von selbst ganz lautlos öffnet. Die Gestalt tritt ein, fest in den
Mantel gehüllt und den großen bfut tief im Gesicht. Sogleich
pfeift auch der Sturm durch die offene Tür und rüttelt gewaltig
an dem schadhaften, schlecht schließenden Fensterchcn, daß die
Scheiben klirren, eine sogar entzweibricht.

„Brtrud, Brtrud, was ist das für eine Nacht! — Mir ist so
weh; kein Auge habe ich bis jetzt zugeniacht. wenn es doch nur
erst morgen wäre. — lhöre nur das gräßliche Schreien der Lulcn,
— ad/ wie mich friert 1"

„Laß nur, Vater, ich werde das Fenster mit einem Brettchen
notdürftig schließen; decke Dich nur gut zul wir können aber
wirklich nicht länger hier oben wohnen, das kannst Du nicht mehr
aushalten. Ich habe schon gestern mit den, lserrn Kirche'

sprachen, man wird uns ein gemütliches kleines Stübchen im Stadt-
haus einrichten. Dann hat diese Not ein Lnde, Vater, dann wirst
Du wieder ein anderer Mensch. Du setzst Dich dann an den war-
men Gfen, ich schenke Dir ein kleine- Vögelchen, das recht schön
singt, und Deine kleine Rente wird schon für Dich ausreichen.
Meinen Unterhalt kann ich mir ja allein verdienen."

„Mein Kind I Ja, Deine Absichten sind sehr gut — es wird
mir aber recht schwer, von diesem Stübchen zu scheiden, wo ich ge-
boren bin und' mein ganzes Leben verbrachte. Aber es muß ja

sein!-Mache nur das Brettchen recht fest, sonst fliegt es

wieder ab. Ich glaube gar, die Tür ist auf, Brtrud, denn ich
fühle einen so erschauernd eisigen Luftzug I"

„wirklich, Vater, die Tür ist aufgesprungen; der Riegel wird
wohl ausgerissen sein. wie entsetzlich sich der Lärm draußen
anhört. Ich werde gleich schließen!"

Das Mädchen tastet sich vom Fenster zur Tür. Ihr ist dabei
so unheimlich, ihre Füße zittern und kalter Schweiß steht ihr auf
der Stirn, vorsichtig läuft sie weiter, bis sie plötzlich mit einem
lauten Aufschrei zu Boden fällt.

„Iver bist Du, Lindringling, und was willst Du hier?"
schreit sie.

„Brtrud, Kind, was ist geschehen? wer ist da?" —-

Atemlose Stille herrscht einen Augenblick.

„wer ich bin, fragt Ihr? Ich bin der König des Reiches,
in dem jeder Frieden findet. Jeden besuche ich, wenn seine Lebens-
uhr abgelaufcn ist. Jetzt komme ich zu Luch, Thomas Moser, denn
Luer Schaffen und treues Dienen soll belohnt werden. Die Drang-
sale der Welt nehme ich von Luch; Ihr sollt hinfort Frieden, ewigen
Frieden haben und ausruhcn von Lurer Arbeit. Lange habt Ihr
gelebt, überlaßt jetzt den Jüngeren den Dienst!"

Der Alte sagt nichts. Unschlüssig starrt er in den dunklen
Raum, jedoch in seinem Innern arbeitet es. Sterben soll er? was
soll aus seiner Tochter werden?

„willst Du mich denn jetzt schon holen?— Wohl war meine
Lebenszeit lang, viel Leid und Kümmernisse habe ich durchgemacht,
Freuden kannte ich nie. Doch trotzdenr will ich iroch leben, leben
für mein Kind, das noch so jung und unerfahren ist. Gönne mir
nur meines Kindes wegen noch kurze Zeit mein Leben!"

Flehend klingen die mühsam gesprochenen lvorte des alten
Glöckners, und bittend hebt er die lfändc.

„Nein, alter Moser, es steht nicht in meiner Macht, Dir
längeres Leben zu schenken, ich bin selbst nur Diener, der aus-
zuführen hat, was im Buche des Schicksals steht. Unerbittlich muß
ich sein, dauernd Tränen sehen. — Uni Deine Tochter brauchst Du
nichts zu fürchten. Augenblicklich ist sie ohnmächtig, aber ich kann
es Dir verraten: Auch sie muß ich sehr bald holen, so jung sie
auch noch ist — das Schicksal will es I"

Langsam sinkt der Greis in seine Kissen zurück und faltet die
Hände zum stillen Gebet.

Da erhebt sich Brtrud wieder aus ihrer Bhnnracht, sie richtet
sich auf und wankt an das kleine Tischchen, um die Kerze an-
zuzünden. Jetzt gewahrt sie den Tod, der grinsend an der Tür
steht, die Wirklichkeit kommt ihr zurück und sie sinkt mit dem Auf-
schrei: „Vater!" zu Boden. Doch gleich hat sie sich wieder gefaßt;
kreidebleich und zitternd erhebt sie sich und wirft sich den, Tode
bittend vor die Füße.

„Habe Erbarmen! Nimm mich mit, wenn Du nicht ohne
-t gehen willst. Ich flehe Dich an, schenke meinem armen
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