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Das Bilderbüchl vierter Rlasse.

Nasentröpferl.

wir fahren in der freistaatlich bayrischen Eisenbahn vierter
Klasse. Sie, ein altes verhutzeltes weiblein, „z'weng de Var" —
ich, um an den von allen besseren Dichtern mit Recht so geschätzten
Busen der Natur zu flüchten. Der Pimmel hängt — eine einzige
große Katarrhnase — über der grauen Spätherbsterde, tröpfelt
schön stad herunter, näßt die Scheiben an und im wagen spuckt,
räuspert und schneuzt die kalte Jahreszeit.

Das weiblein mir gegenüber ist eingemummt in ein dickes Woll-
tuch, aus dem nur zwei blanke, flinke Äuglein hervorlugcn und die
rötlich überhauchte Spitze einer nicht zu knapp geratenen „pakelnase."

wir kommen ins „Dischkrier'n": über die Eier, zu Krieg,
Umsturz und schlechter Zeit. Da wird das wciblein warm und
verteilt allerhand unrühmliche Prädikate an die Dinge und Men»
schen der Gegenwart. Allmählich kristallisiert sich an ihrer Nasen-
spitze ein wasserklares, demant'nes Tröpflein — schwankt, wankt
und findet dann ein beschauliches „verweile doch".

Das weiblein schimpft aus tiefstem perzensgrund weiter. Daß
die Regierung ein Saustall ist, und die Leut' in der Stadt — es
ist schon ein Saustall und draußt am Land, ein Saustall is und
letzten Endes auch die Eisenbahn vierter Klaff' mit solchane Preis
und Überhaupts : ein Saustall I

Indes ist über der Erregung das Tröpferl ins Wanken und
Schwanken gekommen, blitzt noch einmal auf und fällt von der
Nasenspitze auf den braunen pandrücken. Aber schon zittert ein
neues an der Nase, funkelt ein Weilchen zwischen Pimmel und
Erde und fällt dann . . .

Unwillig wischt das weiblein in deKpitze des Disputs die

Band an den Rock. Und schon hat sich ein drittes Tröpferl oben
geformt, schillernd, blitzend wie der Kohinoor im englischen Kron-
schatz — zittert im Rhythmus des Wagens hin und her und landet
dann geradezu klatschend auf der pand.

Jetzt wird's dem weiblein aber doch zu dumm. Empört wendet
sich ihr Blick zur wagendccke und sie sagt ingrimmig! „. . . Is
nachher dös net a Saustall, wenn's sogar bei'n wag'n 'nei'regn't,
wo ma solchane Preis zahl'n muaß. . . ?" Und zornig wischt sie
die pand ab. Und ich kann nicht umhin, ihr recht zu geben.

Der Delikateßstumpen.

was das ist? Der Raucher weiß es. Eine Zigarre, die etwa
halb oder dreiviertel aufgeraucht, ausgebrannt ist und wieder in

die Westentasche verstaut wird, um sie bei Gelegenheit nochmal in
Szene zu setzen. Sparsame Gemüter, besonders in dieser teuern
Zeit, lassen keinen Delikateßstumpen umkommen.

Neben nur sitzt ein kleines hageres Manndl mit verwittertem
pavelock und Gesicht. Der große Kriegsgewinn ist an ihm vorüber-
gegangen. Er fingerlt mit knochiger pand aus irgend einer seiner
vielen Taschen den Delikateßstumpen heraus: ein Endchen „Vir-
ginia". Bläst liebevoll die Taschenbrösel und Wollwutzerl davon
weg, entlaust sie gewissermaßen und saugt probierend an dem zer-
knautschten Strohhalm. Sie zieht noch. — Dann radelt er an einem
Benzinfeuerzeug mit Leidenschaft und Pingabe, daß „Kies und
funken stoben", aber das Feuerzeug mag nicht. Ls hat seinen
schlechten Tag. Ich komme ihm mit einem Streichholz zu Pilse. —

Er zieht an der Virginia, daß ihm die Backen hohl werden.
Endlich ein schüchternes Glimmen, zwei schwache Züge Rauch und
der Delikateßstumpen ist wieder kalt. Er dreht ihn sorgsam nach
allen Seiten, fahndet nach der Diagnose, drückt ihn zärtlich ab und
leimt ein losgelöstes Deckblättchen mit Spucke an. Benzinfeuer-
zeug. — Rrßstst-rrßstst-rrßstst — es mag halt nicht. — Zündholz. —
peftigstes Ziehen, als wollte er dem Stumpen die Seele heraus-
saugen. vier Züge. Eisernes Muß!

Über die Kraft! — Erkaltung! — Er besieht mit Geduld
und pingabc die Virginia, leimt oben ein Tabakblättchen an, löst
von einer Zeitung ein Stück Rand und macht ihr einen Prießnitz-
umschlag. Feuerzeug. — Versager. — Zündholz! — Fünf mit
übermenschlicher Energie ertrotzte Züge. — Erkaltung.

Der Prießnitzumschlag wird gelockert. Der Strohhalm weiter
herausgezogen, ein Endchen Verkohlung abgeschnitten. — Feuer-
zeug. — Mag nicht! — Zündholz. — Zündholz mag nicht. —
Feuerzeug! Jetzt „erscht recht" nicht! — Zündholz. — Sechs über-
menschliche Züge. Der letzte nur mehr ein pauch Tabakräuchlein,
ersterbend, abgequält. Erkaltet.

Der Prießnitzumschlag kommt weg. Mit einer Nadel wird
eine Luftröhre gestochen, der Strohhalm abgeschnitten, denn er ist
bereits mehr Spucke als Stroh. Feuerzeug! — Verachtung über
den Zudringlichen I Nicht einmal mehr Funken. — Zündholz.

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Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Das Bilderbüchl vierter Klasse"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Storch, Carl
Entstehungsdatum
um 1920
Entstehungsdatum (normiert)
1910 - 1930
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
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Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 153.1920, Nr. 3933, S. 191

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