Der Aufstand der Atome.
ie alte Erde hatte schon recht lang bestanden,
vor Jahrbillionen war sie geboren und als
sie ihr eigenes Leben begann, vollzogen sich
alle ihre Tätigkeiten nach bestimmten Ge-
setzen. Lin Teil der Atome lagerte obenauf
und bildete die Erdoberfläche. In ihrem
dunklen Schoße wohnten Milliarden und Aber-
milliarden von Atomen beieinander und warteten darauf, auch an
den Tag zu kommen, um sich an der strahlenden Sonne zu freuen.
Und der Kreislauf der Natur zog die harrenden Atömchen an die
Bberfläche, die feuerspeienden Berge warfen ungeheure Massen
Lava, Stein, Gase, Asche aus, die (Quellen der Gewässer brachten
manches tiefschlummernde Körnchen Gold, Salz, Kalk herauf und
die unzähligen Pflanzen sogen in stiller, unermüdlicher Arbeit jahr-
ein jahraus Millionen von Atomen auf. Aber die Masse der Sonn-
lichtenterbten war zu groß und viele harrten vergeblich des Tages.
„Womit haben wir es verdient", sprachen die einen, „daß
wir so zurückgesetzt werden?"
„Ist es gerecht", fragten die andern, „daß viele Atome, sei
es durch Zufall, Glück oder List, unentwegt der Sonne sich er-
freuen, während wir in Nacht und Grauen schmachten müssen?
Sind die oben etwa besser als wir?"
Und eine mächtige Gärung entstand unter den unzufriedenen
Atomen. Sie drängten alle gleichzeitig nach oben und wollten
alle zugleich die Bberfläche bilden, um sich des Lichtes zu erfreuen.
Da barst die Erde, ihr Körper versprühte in eine gewaltige Feuer-
garbe und Berge, Menschen, Flüsse, pariser lösten sich jählings in
Urwcltnebel auf.
Jetzt badeten alle Atome frei im Sonnenglanz. Doch ach, die
Sonne wärmte nicht mehr und die schreckliche Weltraumkälte fror
sie ins innerste Mark.
Ein Astronom am fernen Uranus, der die Pimmclskatastrophc
im Fernrohr beobachtet hatte, sprach zu sich: „Li, wie interessant;
dort löst eine Welt sich auf! Was gilt's, daß die auseinanderstre-
bendcn Atome sich in ein paar Jahrmilliönchcn zu einer neuen
Welt wieder zusammenziehen?"
5 ch ii a - T r a - G a.
Schna-Tra-Ga war als Gans auf die Welt gekommen. Aber
sic hatte den Mut einer Löwin und den Tiefsinn eines Kranichs.
Wäre sie als Mensch geboren worden, sie hätte sicher einen Plato,
Mahomed oder Lenin — je nach dem Jahrhundert — gegeben.
So aber war sie nur eine Gans, allerdings eine außergewöhnliche.
Schon als Gänslein wollte sie nicht so wie ihre Geschwister
in dem Teiche schwimmen. Sie erklärte den Schlammgrund des
Wassers für unhygienisch und Schnecken für eine barbarische Kost.
Alle mütterlichen Ermahnungen und zärtlichen Züchtigungen nützten
nichts. Sie mied geflissentlich Tümpel und Teiche und nährte
sich nur von Bbstabfällen, Gras und Samen.
Wenn um die gewohnte Stunde sich das ganze Federvolk vor
dem Pause versammelte und die wappelige Alte die Körner aus-
streute, da predigte die Gans gegen den Eigennutz und Egoismus
und wollte das Futter zu gleichen Teilen unter alle verteilen,
gleichgültig, ob es ein kleines Kücklein war, das mit drei Körn-
lein genug hatte, oder ein ausgewachsener Truthahn, der Dutzende
brauchte, um seinen Kropf zu füllen. Sie verlangte Duldsamkeit
von ihren Mitschwestern und wollte nicht leiden, daß ein freches
pühnlein angepfaucht wurde, weil es ihnen vor der Nase ein
fettes Körnlein weggepickt hatte.
Als Schna-Tra-Ga ein Jahr alt wurde, kam sie durch Be-
trachten und Nachdenken auf Dinge, die vor ihr noch keine Gans
entdeckt hatte. Gftmals hörte sie im Nachbarhofe durchdringendes
Klagegeschrei ihrer Schwestern, die sic hernach mit entsetzt schla-
genden Flügeln in erbarmungswürdigem Zustande aus dem Pause
halb laufen, halb fliegen sah. Diese Unglücklichen hatte man ihrer
weißen Kleider beraubt, sie blutenden Leibes nackt auf die Straße
gesetzt, so daß nicht einmal ihre langen Flügel hinreichten, die
Scham vollends zu bedecken. Sie beobachtete auch, daß die wap-
xelige Alte und Pepi, der junge Taugenichts, eine ihrer Schwestern
holte, und daß dann anderntags der böse pofhund Knochen fraß,
in denen ihr Scharfblick Überreste der unglücklichen Schwester er-
kannte. Sie wußte auch, daß ihre Schwestern den lieben Tag
lang Unsinn schwatzten und darum den Menschen zum Gespötte
wurden. Sie merkte endlich, daß die Pferde meistens stumm waren
und darum bei den Menschen als kluge Tiere galten.
Und Schna-Tra-Ga zog sich in die Einsamkeit zurück, lebte
nur noch von trockenem Pen und sann darüber, wie sie den sitt-
lichen Tiefstand ihres Geschlechtes, ja des ganzen Federvolkes, heben
könne. Dann trat sie mit ihrer neuen Lehre hervor:
„Gänse!" sprach sie, „wir sind eine arme geschundene Kaste!
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ie alte Erde hatte schon recht lang bestanden,
vor Jahrbillionen war sie geboren und als
sie ihr eigenes Leben begann, vollzogen sich
alle ihre Tätigkeiten nach bestimmten Ge-
setzen. Lin Teil der Atome lagerte obenauf
und bildete die Erdoberfläche. In ihrem
dunklen Schoße wohnten Milliarden und Aber-
milliarden von Atomen beieinander und warteten darauf, auch an
den Tag zu kommen, um sich an der strahlenden Sonne zu freuen.
Und der Kreislauf der Natur zog die harrenden Atömchen an die
Bberfläche, die feuerspeienden Berge warfen ungeheure Massen
Lava, Stein, Gase, Asche aus, die (Quellen der Gewässer brachten
manches tiefschlummernde Körnchen Gold, Salz, Kalk herauf und
die unzähligen Pflanzen sogen in stiller, unermüdlicher Arbeit jahr-
ein jahraus Millionen von Atomen auf. Aber die Masse der Sonn-
lichtenterbten war zu groß und viele harrten vergeblich des Tages.
„Womit haben wir es verdient", sprachen die einen, „daß
wir so zurückgesetzt werden?"
„Ist es gerecht", fragten die andern, „daß viele Atome, sei
es durch Zufall, Glück oder List, unentwegt der Sonne sich er-
freuen, während wir in Nacht und Grauen schmachten müssen?
Sind die oben etwa besser als wir?"
Und eine mächtige Gärung entstand unter den unzufriedenen
Atomen. Sie drängten alle gleichzeitig nach oben und wollten
alle zugleich die Bberfläche bilden, um sich des Lichtes zu erfreuen.
Da barst die Erde, ihr Körper versprühte in eine gewaltige Feuer-
garbe und Berge, Menschen, Flüsse, pariser lösten sich jählings in
Urwcltnebel auf.
Jetzt badeten alle Atome frei im Sonnenglanz. Doch ach, die
Sonne wärmte nicht mehr und die schreckliche Weltraumkälte fror
sie ins innerste Mark.
Ein Astronom am fernen Uranus, der die Pimmclskatastrophc
im Fernrohr beobachtet hatte, sprach zu sich: „Li, wie interessant;
dort löst eine Welt sich auf! Was gilt's, daß die auseinanderstre-
bendcn Atome sich in ein paar Jahrmilliönchcn zu einer neuen
Welt wieder zusammenziehen?"
5 ch ii a - T r a - G a.
Schna-Tra-Ga war als Gans auf die Welt gekommen. Aber
sic hatte den Mut einer Löwin und den Tiefsinn eines Kranichs.
Wäre sie als Mensch geboren worden, sie hätte sicher einen Plato,
Mahomed oder Lenin — je nach dem Jahrhundert — gegeben.
So aber war sie nur eine Gans, allerdings eine außergewöhnliche.
Schon als Gänslein wollte sie nicht so wie ihre Geschwister
in dem Teiche schwimmen. Sie erklärte den Schlammgrund des
Wassers für unhygienisch und Schnecken für eine barbarische Kost.
Alle mütterlichen Ermahnungen und zärtlichen Züchtigungen nützten
nichts. Sie mied geflissentlich Tümpel und Teiche und nährte
sich nur von Bbstabfällen, Gras und Samen.
Wenn um die gewohnte Stunde sich das ganze Federvolk vor
dem Pause versammelte und die wappelige Alte die Körner aus-
streute, da predigte die Gans gegen den Eigennutz und Egoismus
und wollte das Futter zu gleichen Teilen unter alle verteilen,
gleichgültig, ob es ein kleines Kücklein war, das mit drei Körn-
lein genug hatte, oder ein ausgewachsener Truthahn, der Dutzende
brauchte, um seinen Kropf zu füllen. Sie verlangte Duldsamkeit
von ihren Mitschwestern und wollte nicht leiden, daß ein freches
pühnlein angepfaucht wurde, weil es ihnen vor der Nase ein
fettes Körnlein weggepickt hatte.
Als Schna-Tra-Ga ein Jahr alt wurde, kam sie durch Be-
trachten und Nachdenken auf Dinge, die vor ihr noch keine Gans
entdeckt hatte. Gftmals hörte sie im Nachbarhofe durchdringendes
Klagegeschrei ihrer Schwestern, die sic hernach mit entsetzt schla-
genden Flügeln in erbarmungswürdigem Zustande aus dem Pause
halb laufen, halb fliegen sah. Diese Unglücklichen hatte man ihrer
weißen Kleider beraubt, sie blutenden Leibes nackt auf die Straße
gesetzt, so daß nicht einmal ihre langen Flügel hinreichten, die
Scham vollends zu bedecken. Sie beobachtete auch, daß die wap-
xelige Alte und Pepi, der junge Taugenichts, eine ihrer Schwestern
holte, und daß dann anderntags der böse pofhund Knochen fraß,
in denen ihr Scharfblick Überreste der unglücklichen Schwester er-
kannte. Sie wußte auch, daß ihre Schwestern den lieben Tag
lang Unsinn schwatzten und darum den Menschen zum Gespötte
wurden. Sie merkte endlich, daß die Pferde meistens stumm waren
und darum bei den Menschen als kluge Tiere galten.
Und Schna-Tra-Ga zog sich in die Einsamkeit zurück, lebte
nur noch von trockenem Pen und sann darüber, wie sie den sitt-
lichen Tiefstand ihres Geschlechtes, ja des ganzen Federvolkes, heben
könne. Dann trat sie mit ihrer neuen Lehre hervor:
„Gänse!" sprach sie, „wir sind eine arme geschundene Kaste!
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Drei Fabeln"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsdatum
um 1921
Entstehungsdatum (normiert)
1916 - 1926
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 155.1921, Nr. 3975, S. 110
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg