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PER,
Apotheker,.
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Sankt Nikolai schlug es acht.-Provisor Zirngiebl rutschte
U noch etwas auf dem hohen Sessel herum, hüstelte verlegen und gab
sich endlich einen Ruck. Schlug sich den bsavelock uni die Schultern
und zog die Pelzmütze tief ins Gesicht, denn es wetterte draußen, warf
noch einen mißbilligenden Blick durch die buntverglasten Fenster und empfahl
sich. -7-Apotheker Grothegodd war allein in seinem Bereich.-
Tiefes Dämmern lag in dem hohem Raum, durch die dunkelgetäfelten
wände noch mehr verdüstert; wie eine riesige schwarze Truhe dehnte sich
der Ladentisch und in unwirklicher Größe reckten sich die Regale zur
Decke hinauf, mit dieser in ein Finstern verschwimmend. Die zahllosen
weißen Tiegel bleckten wie Zähne daraus hervor. Der Regen rieselte
zuweilen gegen die Scheiben, ein Ährchen tickte irgendwo, sonst regte sich
nichts, kein Leben verriet sich. Der Duft von tausend Mixturen lag be-
wegungslos. —• — Und doch ragte hinter dem hohen Pult ein Kopf
hervor, dessen bebrillte Äuglein nun schon eine geraume Zeit starr auf
einem Rezept hasteten, ohne die Schnörkelschrift darauf im Dunkeln
noch lesen zu können. Aber die Anwesenheit dieses Zettels genügte, um
in dem alten, jahrdurchfurchten Schädel verstaubte, halbvergessene Bilder
hervorzuzerren. — —
Das war am Sankt-Severin-Berg, wo die kleine Kapelle steht, da
ratterte immer die Postkutsche vorbei mit dem Viergespann-und
gleich hinter dem Tannenriegel, wo sich die Straße steil hinunterwindet,
da mußte sie immer halten, um den Radschuh anzulegen. Jedes Jahr
um dieselbe Zeit, just als die Pfingstrosen in den Vorgärten schon
allenthalben erblüht waren, da leuchteten aus dem hohen Kasten heraus
die bunten Mützen der Studenten, die ein paar Wochen Freiheit vor
sich hatten.-Und gerade bei dem Tannenriegel warf immer einer
seinen Koffer heraus und sprang hurtig hinterdrein und von der Kapelle
her kam ihm jemand entgegen im farbigen Miederkleid, an dem die
Silberkettchen klangen, an dem zwei schwere blonde Zöpfe niederhingen.
— — So war es manches Jahr. — — Aber einmal suchte der Stu-
dent am Severin-Berg vergebens nach seinem Mädchen und mußte den
Koffer allein hinunter ins Städtchen tragen — — und so ist's auch
das andere Jahr gewesen-und geblieben. Denn da ist inzwischen
dieser und jener der hübschen Jungfer in den weg getreten, hat mancher
uni sie gefreit und einer sie endlich gewonnen.-
Es war dicke Nacht geworden, als Apotheker Grothegodd plötzlich
hinter seinem Pult zusammenfuhr — — mit hastigen Fingern schlug
er Feuer und entzündete die drei Kerzen des hohen Leuchters. Und
schob die Brille auf der Nase herunter, um nochmal das Rezept genaue-
stens zu überlesen, als hätte nicht ein kurzer Blick darauf ihm völlig
genügt. Das war die bekannte Mischung Doktor bsammerlings, wenn er
barmherziger war als sein beinerner, bleicher Feind — — wenn er vor
ihm kapitulieren mußte und es dem Sieger gar nicht pressierte, sein zuckendes Bpfer zu holen. Dann verschrieb Doktor ksammerling
diese Mischung.-Grothegodd wußte, daß es immer ein Todesurteil war, bei dem er den Scharfrichter spielen mußte. Und heute
betraf es die Maria Klungler, die Witwe des reichen Lebzelters vom Grünen Markt. Mit ihrem Mädchennamen hieß sie Lenke, unter
dem Namen Marlenke war sie im ganzen Städtchen bekannt — — Marlenke nannte man sie noch heute. — —
Nun mußte Marlenke sterben und Grothegodd sollte ihr das Gifttränklein dazu bereiten. — —
Die Kerzen warfen ein zittriges Licht über die langen Reihen von Tiegeln und Flaschen und Gläsern, die großen lateinischen
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Sankt Nikolai schlug es acht.-Provisor Zirngiebl rutschte
U noch etwas auf dem hohen Sessel herum, hüstelte verlegen und gab
sich endlich einen Ruck. Schlug sich den bsavelock uni die Schultern
und zog die Pelzmütze tief ins Gesicht, denn es wetterte draußen, warf
noch einen mißbilligenden Blick durch die buntverglasten Fenster und empfahl
sich. -7-Apotheker Grothegodd war allein in seinem Bereich.-
Tiefes Dämmern lag in dem hohem Raum, durch die dunkelgetäfelten
wände noch mehr verdüstert; wie eine riesige schwarze Truhe dehnte sich
der Ladentisch und in unwirklicher Größe reckten sich die Regale zur
Decke hinauf, mit dieser in ein Finstern verschwimmend. Die zahllosen
weißen Tiegel bleckten wie Zähne daraus hervor. Der Regen rieselte
zuweilen gegen die Scheiben, ein Ährchen tickte irgendwo, sonst regte sich
nichts, kein Leben verriet sich. Der Duft von tausend Mixturen lag be-
wegungslos. —• — Und doch ragte hinter dem hohen Pult ein Kopf
hervor, dessen bebrillte Äuglein nun schon eine geraume Zeit starr auf
einem Rezept hasteten, ohne die Schnörkelschrift darauf im Dunkeln
noch lesen zu können. Aber die Anwesenheit dieses Zettels genügte, um
in dem alten, jahrdurchfurchten Schädel verstaubte, halbvergessene Bilder
hervorzuzerren. — —
Das war am Sankt-Severin-Berg, wo die kleine Kapelle steht, da
ratterte immer die Postkutsche vorbei mit dem Viergespann-und
gleich hinter dem Tannenriegel, wo sich die Straße steil hinunterwindet,
da mußte sie immer halten, um den Radschuh anzulegen. Jedes Jahr
um dieselbe Zeit, just als die Pfingstrosen in den Vorgärten schon
allenthalben erblüht waren, da leuchteten aus dem hohen Kasten heraus
die bunten Mützen der Studenten, die ein paar Wochen Freiheit vor
sich hatten.-Und gerade bei dem Tannenriegel warf immer einer
seinen Koffer heraus und sprang hurtig hinterdrein und von der Kapelle
her kam ihm jemand entgegen im farbigen Miederkleid, an dem die
Silberkettchen klangen, an dem zwei schwere blonde Zöpfe niederhingen.
— — So war es manches Jahr. — — Aber einmal suchte der Stu-
dent am Severin-Berg vergebens nach seinem Mädchen und mußte den
Koffer allein hinunter ins Städtchen tragen — — und so ist's auch
das andere Jahr gewesen-und geblieben. Denn da ist inzwischen
dieser und jener der hübschen Jungfer in den weg getreten, hat mancher
uni sie gefreit und einer sie endlich gewonnen.-
Es war dicke Nacht geworden, als Apotheker Grothegodd plötzlich
hinter seinem Pult zusammenfuhr — — mit hastigen Fingern schlug
er Feuer und entzündete die drei Kerzen des hohen Leuchters. Und
schob die Brille auf der Nase herunter, um nochmal das Rezept genaue-
stens zu überlesen, als hätte nicht ein kurzer Blick darauf ihm völlig
genügt. Das war die bekannte Mischung Doktor bsammerlings, wenn er
barmherziger war als sein beinerner, bleicher Feind — — wenn er vor
ihm kapitulieren mußte und es dem Sieger gar nicht pressierte, sein zuckendes Bpfer zu holen. Dann verschrieb Doktor ksammerling
diese Mischung.-Grothegodd wußte, daß es immer ein Todesurteil war, bei dem er den Scharfrichter spielen mußte. Und heute
betraf es die Maria Klungler, die Witwe des reichen Lebzelters vom Grünen Markt. Mit ihrem Mädchennamen hieß sie Lenke, unter
dem Namen Marlenke war sie im ganzen Städtchen bekannt — — Marlenke nannte man sie noch heute. — —
Nun mußte Marlenke sterben und Grothegodd sollte ihr das Gifttränklein dazu bereiten. — —
Die Kerzen warfen ein zittriges Licht über die langen Reihen von Tiegeln und Flaschen und Gläsern, die großen lateinischen
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Der Apotheker"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum (normiert)
1921 - 1921
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 155.1921, Nr. 3985, S. 191
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg