Fliegende Blätter (158.1923 (Nr. 4040-4065))

Der Fluch der Bahnhofbuchhändlerin.

falsch geraten! Das ist kein Filmdrama, sondern mein heutiges
Erlebnis. Gewohnt, jedem Ding die angenehmere Seite abzugewinnen,
schleuderte ich, weil das Mittagessen nicht sertig war, den sonnigen
Gehsteig entlang und führte meinen Frühlenzschnupfen spazieren. Die
Dachrinnen tropften wie meine Nase. 2Ibcr sie konnten nicht mit-
kommen, was mich
mit stolzer lfeiter-
keit erfüllte. Da
zappelte Egidius
aus einem reichge-
schnitzten Barock-
tore — oder war es
Rokoko? —und fiel
mir um den Vals.

„Don heute an
werde ich schlafen
können!" .. Durch
Einbohren meines
Stockgriffes in sei-
nen Rauch bekom-
me ich soviel Atem-
freiheit um ihm
bestätigen zu kön-
nen, das; er über-
nächtig aussehc.

„Stimmt!" ruft
er „und wenn Du
Zeit hast, so will
ich Dir meine Rot
vermelden."

„Beginne, wer-
ter Freund! Mir
stehen hier ange-
nehm in der wär-
menden Sonne.

Aber bitte, halte
Abstand! Denn
mein Schnupfen
scheint fortpflan-
zungsfähig."

„vor einigen
Machen", Hub er
an, „kaufte ich auf
der Reise einen
Roman. Grund-
sätzlich bin ich zwar
gegen Romane.

Aber auf der Reise!

Und das Titelblatt
leuchtete so ver-
lockend durch den
(Vualm der Bahnhoshallc. Ich erwarb ihn und wars der Buchhänd-
lerin einen Geldschein hin. Der Zug pfiff bereits. Sic aber hatte
kein Kleingeld. Mit einer Verwünschung sprang ich in den Magen
und verzichtete fluchend. Auch sie ries mir etwas nach und zwar
keinen Segenswunsch. Die kscrc! Nun begann mein Verhängnis."

Gerührt machte Egidius Anstalten zu einer neuen Umarmung.
Doch mcin Stockgriff und ein sprühendes „Bazi" bewahrten ihn
und mich vor dem Gelächter der Vorübergehenden. — „Der Roman

war nicht schlecht. Ich las und fand Spannung darin, — behag-
liches Gruseln. Denke Dir also mein Erstaunen, Entsetzen, als nach
Seite t6 mir plötzlich Seite 55 cntgcgcnstarrtc! An der crgrcisendcn
Stelle, wo die geschiedene Baronin ihr Papiergeld in der Bcttflasche
versteckte, da klaffte ein Spalt, — ich blätterte vergeblich weiter und

suchte. Ein ganzer
Bogen fehlte.

Ich frage Dich,
mein Lieber, was
ist eine Kuh ohne
kforn, ein Mädchen
ohne Mitgift, ein
Roman ohne Fort-
setzung? Barock!"

„Menn nicht
Rokoko!" warf ich
ein und schielte nach
dem lsaustor.

„Meißt Du,
was ich tat? —
Mutend zerrte ich
am Fensterricnien.
Das ungeratene
Buch verdiente de»
Tod auf den Schie-
nen. 2lbcr natürlich
spreizte sich dasFcn-
ster, das Leder riß
ab und der Schaff-
ner glaubte endlich
die Verso» erwischt
zu haben, „die wo
immer Streichrie-
men für Rasicr-
messer hamstert" —
so sagte er und
wies das ihm an
botcnc Romaubuch
als plumpen Bc-
stcchungsversuch zu-
rück. Gut, ich warf
es auf die Bank
und ließ mich, jede
Höflichkeit verges-
send, darauf nicdcr-
pluuipsen, uni cs
zu zerquetschen. —
Doch sofort schleu-
derte es mich in
die lföhe, und ich
denke noch mit
Schmerzen daran, wie mich hilfsbereite Nachbarn aus der peinlichen
Laac und den spitzigen Drahtklammcrn befreiten.

Meine liöflichkcit kehrte rasch wieder. Behutsam verwahrte
meine liand das wehrhafte Ding auf dem oberen Gepäcknetze. Die
restige Fahrt stand ich am Fenster, weil mir das Sitzen verleidet
war. Insgeheim aber faßte ich den Entschluß, die boshafte Miß-
geburt auszusetzen, zu verleugnen — zu vergessen. Mas sind
Hoffnungen? . . . . Kaum war ich am Ziel aus dem Abteil

Fortsetzung auf Seite 62

-Mistvieh!-

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