Der Pullover (Von W.u» Günther)
Es bat Tränen gegeben, wirkliche echte Tränen, die siedend-
beiß, wie aus dem Grunde eines Geisers, aus den tiefsten
Herzensfalten sprangen und bei denen kein Krokodil Pate
gestanden hatte. Aus reinem Schmerz geboren, rollten sic mei-
ner Braut unaufhaltsam über die lieblichen Wangen. Und das
an ihrem Geburtstage, weil ich ihr ausier dem Taselsilber eine
totschicke Jacke mit echtem Grizzlibärbesatz geschenkt hatte -
statt eines Pullovers.
Ich werde an diesen Geburtstag denken. Zwei Stunden
lang habe ich geredet bis zur totalen Heiserkeit, um Anne-
marie zur neuen Pelzverbrämten zu bekehren, habe meinem
so wenig gewürdigten Schmuckstück noch ein Fläschchen 4711
Kölnisch Master beigesügt, damit meine gekränkte Holde die
Tränenquellbäche damit tilgen konnte, versprach, mich redlich
zu beffern und durfte ihr — das Jäckchen anziehen zur Abend-
promenadc.
Da wir diese Bummelpartie gewöhnlich in Gemeinschaft
meines Freundes Egon und seiner bereits vierzehn Ehetage
alten Annie erledigten, begaben wir uns in den „Tauben-
schlag," wie wir scherzhaft die aus lauter schrägen Wänden
bestehende Notwohnung meines Freundes im Mansardenge-
biet eines großstädtischen Wolkenkratzers getauft hatten. Der Anblick
beim Betreten der Wohnung wird uns unvergeßlich fein, obwohl sich
das Grollen des Gewitters am jungen Ehehimmel bereits gelegt hatte.
Im Rohrseffel hockte mit düsterem Blick unter gefurchter Stirn
der Hausherr und in der Sofaccke schluchzte herzbrechend, in einen Pul-
lover gehüllt, besten Rückseite brutal ausgeschlitzt war, die blonde Annie.
Das Zimmerchen sah so wüst aus, wie unser lieber Erdenkloß am An-
fang der Schöpfung auögesehen haben mag. In der Mitte türmte sich
ein wildes Durcheinander von Metallteilen, Glasscherben, Holzsplittern,
Stuhlkiffen und undefinierbaren Überbleibseln ehemaliger Herrlichkeiten
zu einem Berg von Tischhöbe.
Nach diesem trostlosen Anblick überließen wir die Herrschaften sich
selbst; denn das war mir sofort klar, hier spielte sich ein Intermezzo
interner Art ab, bei welchem Zuschauer höchst unerwünscht waren.
Drei Tage darnach hatte sich Egon soweit erholt, mir das Rätsel zu
lösen. Mit schauspielerischer Beredsamkeit enthüllte er mir die Kata-
strophe: „Ich war gerade zum Auögehen fertig, nur Annie batte ihren
Anzug noch nicht beisammen. Während ich beschäftigt bin, meine Ziga-
rette in Betrieb zu setzen, nimmt sie den lachsgrundig-weiß-bleu-orange-
gelb-liiagesprenkelten Dreß, den eine unerforschliche Mode Pullover
getauft Kak und bemüht sich, durch besten heimtückische Enge ans Tages-
licht zu rudern.
Aber da beginnt das Verhängnis.
Sie bleibt mit dem dauergewellten Bubikopf stecken, bohrt mit dem
rechten Arm nach der rechten, stößt mit dem linken nach der linken Ar-
melöffnung, macht verzweifelte Schwimmversuche in der Lust und kommt
doch nicht weiter, wegen des fabelbaft engen Halsausschnittes. Sie w>rd
wütend, krümmt sich, reckt sich, turnt, büpft, reißt, würgt, zuckt, ächzt
atemlos, fuchtelt wie irrsinnig mit den Armen umber und trampelt sinn-
los mit den Füßen. Sie dreht sich im tollen Wirbel wie ein Karustell,
Kopf — Arme — Rumpf — Fra» — Pullover — alles ist ein wahn-
sinnig rotierender Wollknäul, der unberechenbar durchs Zimmer kreist.
Die Kaffeemaschine wird mit dem .Kaffeeservice vom Serviertisch
gefegt, der Spiegel klirrt, zwei Blumenvasen stürzen zu Boden, der
Hund wird auf den Schwanz getreten und reißt bei der Flucht den
Rauchtisch um, der Laubfrosch hüpft erschrocken aus seiner zertrümmerten
Behausung i» das Tohuwabohu, die Stehlampe gerät ins Wanken und
der Schirin klirrt, in unzählige Teile zerspringend.
Annie steht keuchend im Trümmerhaufen.
Ich eile hinzu, um Hilfe zu leisten, packe kraftvoll die bunte Hülle,
ein Ruck und nicht Annies Wuschelkopf ist hindurch, sondern der
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Es bat Tränen gegeben, wirkliche echte Tränen, die siedend-
beiß, wie aus dem Grunde eines Geisers, aus den tiefsten
Herzensfalten sprangen und bei denen kein Krokodil Pate
gestanden hatte. Aus reinem Schmerz geboren, rollten sic mei-
ner Braut unaufhaltsam über die lieblichen Wangen. Und das
an ihrem Geburtstage, weil ich ihr ausier dem Taselsilber eine
totschicke Jacke mit echtem Grizzlibärbesatz geschenkt hatte -
statt eines Pullovers.
Ich werde an diesen Geburtstag denken. Zwei Stunden
lang habe ich geredet bis zur totalen Heiserkeit, um Anne-
marie zur neuen Pelzverbrämten zu bekehren, habe meinem
so wenig gewürdigten Schmuckstück noch ein Fläschchen 4711
Kölnisch Master beigesügt, damit meine gekränkte Holde die
Tränenquellbäche damit tilgen konnte, versprach, mich redlich
zu beffern und durfte ihr — das Jäckchen anziehen zur Abend-
promenadc.
Da wir diese Bummelpartie gewöhnlich in Gemeinschaft
meines Freundes Egon und seiner bereits vierzehn Ehetage
alten Annie erledigten, begaben wir uns in den „Tauben-
schlag," wie wir scherzhaft die aus lauter schrägen Wänden
bestehende Notwohnung meines Freundes im Mansardenge-
biet eines großstädtischen Wolkenkratzers getauft hatten. Der Anblick
beim Betreten der Wohnung wird uns unvergeßlich fein, obwohl sich
das Grollen des Gewitters am jungen Ehehimmel bereits gelegt hatte.
Im Rohrseffel hockte mit düsterem Blick unter gefurchter Stirn
der Hausherr und in der Sofaccke schluchzte herzbrechend, in einen Pul-
lover gehüllt, besten Rückseite brutal ausgeschlitzt war, die blonde Annie.
Das Zimmerchen sah so wüst aus, wie unser lieber Erdenkloß am An-
fang der Schöpfung auögesehen haben mag. In der Mitte türmte sich
ein wildes Durcheinander von Metallteilen, Glasscherben, Holzsplittern,
Stuhlkiffen und undefinierbaren Überbleibseln ehemaliger Herrlichkeiten
zu einem Berg von Tischhöbe.
Nach diesem trostlosen Anblick überließen wir die Herrschaften sich
selbst; denn das war mir sofort klar, hier spielte sich ein Intermezzo
interner Art ab, bei welchem Zuschauer höchst unerwünscht waren.
Drei Tage darnach hatte sich Egon soweit erholt, mir das Rätsel zu
lösen. Mit schauspielerischer Beredsamkeit enthüllte er mir die Kata-
strophe: „Ich war gerade zum Auögehen fertig, nur Annie batte ihren
Anzug noch nicht beisammen. Während ich beschäftigt bin, meine Ziga-
rette in Betrieb zu setzen, nimmt sie den lachsgrundig-weiß-bleu-orange-
gelb-liiagesprenkelten Dreß, den eine unerforschliche Mode Pullover
getauft Kak und bemüht sich, durch besten heimtückische Enge ans Tages-
licht zu rudern.
Aber da beginnt das Verhängnis.
Sie bleibt mit dem dauergewellten Bubikopf stecken, bohrt mit dem
rechten Arm nach der rechten, stößt mit dem linken nach der linken Ar-
melöffnung, macht verzweifelte Schwimmversuche in der Lust und kommt
doch nicht weiter, wegen des fabelbaft engen Halsausschnittes. Sie w>rd
wütend, krümmt sich, reckt sich, turnt, büpft, reißt, würgt, zuckt, ächzt
atemlos, fuchtelt wie irrsinnig mit den Armen umber und trampelt sinn-
los mit den Füßen. Sie dreht sich im tollen Wirbel wie ein Karustell,
Kopf — Arme — Rumpf — Fra» — Pullover — alles ist ein wahn-
sinnig rotierender Wollknäul, der unberechenbar durchs Zimmer kreist.
Die Kaffeemaschine wird mit dem .Kaffeeservice vom Serviertisch
gefegt, der Spiegel klirrt, zwei Blumenvasen stürzen zu Boden, der
Hund wird auf den Schwanz getreten und reißt bei der Flucht den
Rauchtisch um, der Laubfrosch hüpft erschrocken aus seiner zertrümmerten
Behausung i» das Tohuwabohu, die Stehlampe gerät ins Wanken und
der Schirin klirrt, in unzählige Teile zerspringend.
Annie steht keuchend im Trümmerhaufen.
Ich eile hinzu, um Hilfe zu leisten, packe kraftvoll die bunte Hülle,
ein Ruck und nicht Annies Wuschelkopf ist hindurch, sondern der
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Der Pullover"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1927
Entstehungsdatum (normiert)
1922 - 1932
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 166.1927, Nr. 4251, S. 44
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg