Der Kirschkern
Wenn die ersten Kirschen auf den Karren der Straßenhändler
leuchten, kann ich nicht widerstehen und kaufe mir ein Pfund. Die
schönsten effe ich dann gleich, und mit dem Rest erziele ich bei meiner
Familie immer noch einen Achtungserfolg.
Aber die Kerne! Man darf sie nicht wegwersen. Das verteuert
den Genuß um 2 Mark.
Zum Glück haben wir als
Pennäler gelernt, Kirsch-
kerne zwischen den Fingern
springen zu lasten, in offene
Fenster oder auf die Kehr-
seite von Hunden, die mit
Einziehung desSchwanzes
den Volltreffer quittieren.
In der Quarta habe ich
es sogarzum Schützenkönig
gebracht. Traf unfern gäh-
nenden Klaßlehrer mitten
in den aufgesperrten Ra-
chen. Wurde aufs Rektorat
geschleppt. Bekam eine
Stunde Arrest. Worauf
ich sagte, ich hätte eigent-
lich meinen Freund Hein-
rich Greiß treffen wollen.
Und wenn der Herr Pro-
fessor die Hand vor de»
Mund gehalten hätte, wie
es sonst üblich sei, dann
hätte ich ihn nicht in den
Mund treffen können. Wo-
rauf ich »och eine Stunde
Arrest dazu bekam. Aber
ich wurde von der Klasse
zum Schützenkönig ausge-
rufen.
Mit der Zeit wird man
bescheidener. Ich schoß mei-
ne Kerne in harmlose Kel-
lerlöcher. Während ich so
weiterschritt, legte sich eine
Hand schwer auf meine Schulter. Ich drehte mich um. Ein etwas
herrisch aussehender junger Mann zog mit unnachahmlicher Grazie
einen Ausweis mit Lichtbild: Mitterwurzer, Kriminalschutzmann.
Dialog: „Sie haben soeben einen Kirschkern auf die Straße ge-
worfen." - „Nein!" - „Ich Hab 's ja gesehen." - „Wenn Sie
genau zu gesehen haben, wie man es von Ihnen erwarten darf, dann
müssen Sie gesehen haben, daß ich den Kern in ein Kellerloch ge-
schossen habe." - „Zeigen Sie mir das Kellerloch!" - „Bitte,
hier!" — „Da liegt ja der Kern!" — „Das ist nicht mein Kern."
-„Das könnte jeder sagen!"-,,O nein! Wenn Sie von Sherlock
Holmes gelernt hätten, würden Sie sehen, daß dieser Kern trocken ist!"
Herr Mitterwurzer hob den Kern auf. „Allerdings, der Kern ist
trocken .... Zeigen Sie mal die Düte her ... Wie viele Kirschen
haben Sie schon gegessen?" — „4 oder 5." — „So so . . . Das
stimmt wohl nicht. Und die Kerne?" — „Die Kerne habe ich alle
in Kellerlöcher geschossen. Ich schieße nämlich sehr gut. Das ist eine
der wenigen Künste, die ich aus meiner Schulzeit gerettet habe.
Stellen Sie sich vier Meter von mir auf, ich schieße Sie mitten auf
die Nase!" - „Freilich, und dann brennen Sie durch, das kennt
man . . . Wo haben Sie
die Kirschen gekauft?" —
„Dort am Ende der Stra-
ße." — „Kommen Sie
mit!"
Der Zweck war durch-
sichtig. Ich sollte einer un-
wahren Angabe überführt
werden: DieKirschen wer-
den nachgewogen; die feh-
lenden Gramm dividiert
durch das beim Auszählen
eines ganzes Pfundes er-
mittelte Durchschnittsge-
wichteiner Kirsche muß er-
geben, daß ich mindestens
10 Kirschen gegessen habe,
was auch dem „Tatbe-
stand" entsprach.
Als wir dahinschritten,
bat ich höflich um Belehr-
ung über folgende Fragen:
Kostet das Wegwerfen der
ganzen Düte auch nur 2
Mark? Sind dann 5 Ker-
ne nicht billiger? Kostet
ein weggeworfener Trau-
benkern auch 2 Mark? Oder
wo ist die Grenze? Ists
strafbar, wenn man eine
wegwerfende Bemerkung
über Polizeiverordnungen
fallen läßt? usw.
Als wir bei der Obstlerin
anlangten, verlangte Herr
Mitterwurzer, sich wieder-
um ausweisend, das Pfund solle nachgewogen werden. Der armen
Frau fuhr ein heiliger Schreck in die Glieder. Sie dachte wobl, ich
hätte sie wegen schlechten Abwägens angezeigt. Sie wog nach - es
war mehr als einPfund! Sie muß mit taschenspielerischer Gewandt-
heit — eine Handvoll Kirschen hineinpraktiziert haben!
„Nun?" sah ich Herrn Mitterwurzer triumphierend an. Er be-
kam einen roten Kopf und sagte: „Überhaupt ißt man nicht auf der
Straße!" Man darf sich nicht verblüffen lassen. Das habe ich auch
in Quarta gelernt. Ich erwiderte: „Das ist noch lange nicht so
schlimm als wenn man auf der Straße stiehlt, noch dazu als Poli-
zeiorgan . . . Ja, allerdings. Sie baben mir meine Zeit gestoblen.
Für nichts und wieder nichts. Zeit ist Geld. Die haben Sie mir ge-
stohlen. Und dafür lassen Sie sich noch bezahlen."
Wir schieden ohne Gruß. o,J-g«u
Gefahr vorbei! „Die Japaner sollen den Bubikopf verboten haben
— jetft glaube ich an keine gelbe Gefahr mehr!“
280
Wenn die ersten Kirschen auf den Karren der Straßenhändler
leuchten, kann ich nicht widerstehen und kaufe mir ein Pfund. Die
schönsten effe ich dann gleich, und mit dem Rest erziele ich bei meiner
Familie immer noch einen Achtungserfolg.
Aber die Kerne! Man darf sie nicht wegwersen. Das verteuert
den Genuß um 2 Mark.
Zum Glück haben wir als
Pennäler gelernt, Kirsch-
kerne zwischen den Fingern
springen zu lasten, in offene
Fenster oder auf die Kehr-
seite von Hunden, die mit
Einziehung desSchwanzes
den Volltreffer quittieren.
In der Quarta habe ich
es sogarzum Schützenkönig
gebracht. Traf unfern gäh-
nenden Klaßlehrer mitten
in den aufgesperrten Ra-
chen. Wurde aufs Rektorat
geschleppt. Bekam eine
Stunde Arrest. Worauf
ich sagte, ich hätte eigent-
lich meinen Freund Hein-
rich Greiß treffen wollen.
Und wenn der Herr Pro-
fessor die Hand vor de»
Mund gehalten hätte, wie
es sonst üblich sei, dann
hätte ich ihn nicht in den
Mund treffen können. Wo-
rauf ich »och eine Stunde
Arrest dazu bekam. Aber
ich wurde von der Klasse
zum Schützenkönig ausge-
rufen.
Mit der Zeit wird man
bescheidener. Ich schoß mei-
ne Kerne in harmlose Kel-
lerlöcher. Während ich so
weiterschritt, legte sich eine
Hand schwer auf meine Schulter. Ich drehte mich um. Ein etwas
herrisch aussehender junger Mann zog mit unnachahmlicher Grazie
einen Ausweis mit Lichtbild: Mitterwurzer, Kriminalschutzmann.
Dialog: „Sie haben soeben einen Kirschkern auf die Straße ge-
worfen." - „Nein!" - „Ich Hab 's ja gesehen." - „Wenn Sie
genau zu gesehen haben, wie man es von Ihnen erwarten darf, dann
müssen Sie gesehen haben, daß ich den Kern in ein Kellerloch ge-
schossen habe." - „Zeigen Sie mir das Kellerloch!" - „Bitte,
hier!" — „Da liegt ja der Kern!" — „Das ist nicht mein Kern."
-„Das könnte jeder sagen!"-,,O nein! Wenn Sie von Sherlock
Holmes gelernt hätten, würden Sie sehen, daß dieser Kern trocken ist!"
Herr Mitterwurzer hob den Kern auf. „Allerdings, der Kern ist
trocken .... Zeigen Sie mal die Düte her ... Wie viele Kirschen
haben Sie schon gegessen?" — „4 oder 5." — „So so . . . Das
stimmt wohl nicht. Und die Kerne?" — „Die Kerne habe ich alle
in Kellerlöcher geschossen. Ich schieße nämlich sehr gut. Das ist eine
der wenigen Künste, die ich aus meiner Schulzeit gerettet habe.
Stellen Sie sich vier Meter von mir auf, ich schieße Sie mitten auf
die Nase!" - „Freilich, und dann brennen Sie durch, das kennt
man . . . Wo haben Sie
die Kirschen gekauft?" —
„Dort am Ende der Stra-
ße." — „Kommen Sie
mit!"
Der Zweck war durch-
sichtig. Ich sollte einer un-
wahren Angabe überführt
werden: DieKirschen wer-
den nachgewogen; die feh-
lenden Gramm dividiert
durch das beim Auszählen
eines ganzes Pfundes er-
mittelte Durchschnittsge-
wichteiner Kirsche muß er-
geben, daß ich mindestens
10 Kirschen gegessen habe,
was auch dem „Tatbe-
stand" entsprach.
Als wir dahinschritten,
bat ich höflich um Belehr-
ung über folgende Fragen:
Kostet das Wegwerfen der
ganzen Düte auch nur 2
Mark? Sind dann 5 Ker-
ne nicht billiger? Kostet
ein weggeworfener Trau-
benkern auch 2 Mark? Oder
wo ist die Grenze? Ists
strafbar, wenn man eine
wegwerfende Bemerkung
über Polizeiverordnungen
fallen läßt? usw.
Als wir bei der Obstlerin
anlangten, verlangte Herr
Mitterwurzer, sich wieder-
um ausweisend, das Pfund solle nachgewogen werden. Der armen
Frau fuhr ein heiliger Schreck in die Glieder. Sie dachte wobl, ich
hätte sie wegen schlechten Abwägens angezeigt. Sie wog nach - es
war mehr als einPfund! Sie muß mit taschenspielerischer Gewandt-
heit — eine Handvoll Kirschen hineinpraktiziert haben!
„Nun?" sah ich Herrn Mitterwurzer triumphierend an. Er be-
kam einen roten Kopf und sagte: „Überhaupt ißt man nicht auf der
Straße!" Man darf sich nicht verblüffen lassen. Das habe ich auch
in Quarta gelernt. Ich erwiderte: „Das ist noch lange nicht so
schlimm als wenn man auf der Straße stiehlt, noch dazu als Poli-
zeiorgan . . . Ja, allerdings. Sie baben mir meine Zeit gestoblen.
Für nichts und wieder nichts. Zeit ist Geld. Die haben Sie mir ge-
stohlen. Und dafür lassen Sie sich noch bezahlen."
Wir schieden ohne Gruß. o,J-g«u
Gefahr vorbei! „Die Japaner sollen den Bubikopf verboten haben
— jetft glaube ich an keine gelbe Gefahr mehr!“
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Gefahr vorbei!"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1927
Entstehungsdatum (normiert)
1922 - 1932
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 166.1927, Nr. 4271, S. 280
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg