Der Lautsprecher
Von Jo SannS Rösler
Fünf Familien bewohnen das Laus
Gartenstraße I I. Die fünf Familien woh-
nen Wand an Wand. Im Erdgeschoß
wohnen Lennemanns.
„Es ist ja heute wieder reineweg zum
Verrücktwerden!" stöhnte Frau Lennemann,
„den ganzen Tag läßt der alte Mittelmeier
sein Radio gehen. Von früh bis abends.
Dabei kann esihm nicht laut genug sein. Dem
Mann müssen ja die Ohren dröhnen. Bis hier
herunter hört man jedes Wort, jeden Ton."
Der Ehemann Lennemann nickte:
„Eine derartige Rücksichtslosigkeit ist mir
noch nicht vorgekommen. Zwanzigmal habe
ich schon die eine Seite begonnen. Man
kann ja bei diesem Lärm nicht lesen, nicht
denken, nicht arbeiten. Warum stellt er
denn seinen Lautsprecher nicht leiser ein?
Schuberts Forellenquintett ist ein Quintett
von Walfischen. Mozartouvertüren gleichen
einem Motorradrennen. Das Violinsolo
von Kreisler klingt so laut wie der Bläser-
chor der Staatsoper. Im Lörspiel vorhin
glaubte ich, daß einer voller Wut seine
Frau erschlägt, als er ihr ins Ohr flüsterte:
,Ich liebe dich!" Dabei wohnen wir noch
im Erdgeschoß.
Mir tut die arme Frau Freiligrat im
ersten Stock neben ihm leid."
*
Frau Freiligrat im ersten Stock trat aus „Jetzt wird es aber wirklich Zeit, daß ein anderer Fischer
dem Kinderzimmer. bag Wasser pachtet, der Alte fällt auf gar nichts mehr herein!"
„Loffentlich schläft das Kind jetzt,"
seufzte sie.
Das Mädchen Minna meinte: „Bei dem Lärm kann doch kein
Mensch schlafen."
„Er treibt es heute wieder toll, der alte Mittelmeier," sagte
besorgt die Mutter, „immer wieder fährt das Kind aus dem Schlaf.
Schon viermal ist es aufgewacht. Jetzt habe ich es in das Lerren-
zimmer gelegt. Da sind vier Zimmer dazwischen. Bis dort hinüber
wird der Lautsprecher von Mittelmeier doch nicht dringen."
„Loffentlich nicht, gnädige Frau."
Plötzlich verstummten sie.
Eine Kinderstimme schrie hell und verzweifelt. Sie eilten hinüber,
durch vier große Zimmer, durch fünf dicke Türen. Das Kind weinte
und schrie wütend, sechsmal aus dem ersten Schlaf gerissen. Das
Zimmer dröhnte laut von der Tannhäuserouvertüre aus Mittelmeiers
Lautsprecher. Die Mutter nahm das Kind in die Arme. Wiegte es
sanft, bis dem Kleinen die Augen zufielen. Glücklich legte es die
Mutter in das kleine Bett. Deckte es sorgfältig zu. Auf den Zehen-
spitzen schlich sie zur Tür.
Da begann Mittelmeiers Lautsprecher von neuem in höchster
Lautstärke: „Schlafe, mein Kindchen, schlaf ein!"
Das Kind der Frau Freiligrat schrie wie am Spieß.
Frau Freiligrat sank ohnmächtig neben das Bett.
*
Lieber Mittelmeier im zweiten Stock saß ein blondes Mädchen.
Es wurde von einem schlichten Mann geküßt.
„Warum sagst du kein Wort?" meinte das Mädchen.
„Bitte?"
„Warum sagst du kein Wort?" wiederholte das Mädchen lauter.
„Ich verstehe nicht."
„Warum du kein Wort zu mir sprichst?!" schrie jetzt das Mäd-
chen verzweifelt.
Der schlichte junge Mann wurde böse:
„Du hast mich garnicht so anzuschreien, verstanden? Ich rede doch die
ganze Zeit auf dich ein, ohne daß du es für nötig hältst, mir zu antworten."
„Ich habe nichts gehört."
„Kein Wunder!" schimpfte der schlichte junge Mann, „hier hört
man ja weiter nichts als das Radio von Mittelmeier. Erst schmet-
tert das Liebeslied der Rosamunde herauf, daß man denkt, die Wände
fallen ein. Jetzt wieder „Lieber allen Wipfeln ist Ruh" so laut, daß
die Lampe wackelt und die Fensterscheiben klirren! Man ist über-
haupt nicht fähig, ein vernünftiges Wort miteinander zu sprechen.
Da weiß ich mir ein stilles Kind in einer stillen Stube, zu der werde
ich jetzt gehen. Ich bin zwar im Maschinensaal des Eisenstampf-
werkes angestellt, aber was zu viel ist, ist zu viel."
Unter dem Dach saß Urgroßvater. Urgroßvater hatte vor vier
Jahren das Gehör gänzlich verloren, nachdem er schon in früher
Jugend wegen grober Schwerhörigkeit Urgroßvater geworden war.
Urgroßvater ist also stocktaub. Wenn drei Schritte von Urgroßvaters
Zimmer eine Gasanstalt explodiert, sagt Urgroßvater: „Lerein."
Wenn man neben Urgroßvater eine schwere Kanone dreimal abge-
feuert hat, fragt Urgroßvater: „Sie will wohl heute nicht, die
Kanone?" So taub ist Urgroßvater. Leute aber ist er selig. Be-
geistert Pfeift er das Lied mit, das von zwei Stock tiefer von Mittel-
meiers Lautsprecher heraufdringt in seine Kammer. „Leise, leise —
fromme Weise-"
Mittelmeier saß am Radio. Ganz dicht dabei.
Er rückte den Lautsprecher hin und her. Drehte und schraubte.
Zog die Rückkoppelung. Verbesserte die Erdung. Verdoppelte die
Antenne. Verstärkte die Anode. Erhöhte die Leizung.
„Ich weiß nicht, was das heute wieder ist," stöhnte er nervös,
„so leise war der Lautsprecher noch nie!"
Siehe, das ist eine wahre Geschichte!
Sie ist in der Gartenstraße elf passiert. Sie ist mir passiert.
Sie ist dir passiert.
351
Von Jo SannS Rösler
Fünf Familien bewohnen das Laus
Gartenstraße I I. Die fünf Familien woh-
nen Wand an Wand. Im Erdgeschoß
wohnen Lennemanns.
„Es ist ja heute wieder reineweg zum
Verrücktwerden!" stöhnte Frau Lennemann,
„den ganzen Tag läßt der alte Mittelmeier
sein Radio gehen. Von früh bis abends.
Dabei kann esihm nicht laut genug sein. Dem
Mann müssen ja die Ohren dröhnen. Bis hier
herunter hört man jedes Wort, jeden Ton."
Der Ehemann Lennemann nickte:
„Eine derartige Rücksichtslosigkeit ist mir
noch nicht vorgekommen. Zwanzigmal habe
ich schon die eine Seite begonnen. Man
kann ja bei diesem Lärm nicht lesen, nicht
denken, nicht arbeiten. Warum stellt er
denn seinen Lautsprecher nicht leiser ein?
Schuberts Forellenquintett ist ein Quintett
von Walfischen. Mozartouvertüren gleichen
einem Motorradrennen. Das Violinsolo
von Kreisler klingt so laut wie der Bläser-
chor der Staatsoper. Im Lörspiel vorhin
glaubte ich, daß einer voller Wut seine
Frau erschlägt, als er ihr ins Ohr flüsterte:
,Ich liebe dich!" Dabei wohnen wir noch
im Erdgeschoß.
Mir tut die arme Frau Freiligrat im
ersten Stock neben ihm leid."
*
Frau Freiligrat im ersten Stock trat aus „Jetzt wird es aber wirklich Zeit, daß ein anderer Fischer
dem Kinderzimmer. bag Wasser pachtet, der Alte fällt auf gar nichts mehr herein!"
„Loffentlich schläft das Kind jetzt,"
seufzte sie.
Das Mädchen Minna meinte: „Bei dem Lärm kann doch kein
Mensch schlafen."
„Er treibt es heute wieder toll, der alte Mittelmeier," sagte
besorgt die Mutter, „immer wieder fährt das Kind aus dem Schlaf.
Schon viermal ist es aufgewacht. Jetzt habe ich es in das Lerren-
zimmer gelegt. Da sind vier Zimmer dazwischen. Bis dort hinüber
wird der Lautsprecher von Mittelmeier doch nicht dringen."
„Loffentlich nicht, gnädige Frau."
Plötzlich verstummten sie.
Eine Kinderstimme schrie hell und verzweifelt. Sie eilten hinüber,
durch vier große Zimmer, durch fünf dicke Türen. Das Kind weinte
und schrie wütend, sechsmal aus dem ersten Schlaf gerissen. Das
Zimmer dröhnte laut von der Tannhäuserouvertüre aus Mittelmeiers
Lautsprecher. Die Mutter nahm das Kind in die Arme. Wiegte es
sanft, bis dem Kleinen die Augen zufielen. Glücklich legte es die
Mutter in das kleine Bett. Deckte es sorgfältig zu. Auf den Zehen-
spitzen schlich sie zur Tür.
Da begann Mittelmeiers Lautsprecher von neuem in höchster
Lautstärke: „Schlafe, mein Kindchen, schlaf ein!"
Das Kind der Frau Freiligrat schrie wie am Spieß.
Frau Freiligrat sank ohnmächtig neben das Bett.
*
Lieber Mittelmeier im zweiten Stock saß ein blondes Mädchen.
Es wurde von einem schlichten Mann geküßt.
„Warum sagst du kein Wort?" meinte das Mädchen.
„Bitte?"
„Warum sagst du kein Wort?" wiederholte das Mädchen lauter.
„Ich verstehe nicht."
„Warum du kein Wort zu mir sprichst?!" schrie jetzt das Mäd-
chen verzweifelt.
Der schlichte junge Mann wurde böse:
„Du hast mich garnicht so anzuschreien, verstanden? Ich rede doch die
ganze Zeit auf dich ein, ohne daß du es für nötig hältst, mir zu antworten."
„Ich habe nichts gehört."
„Kein Wunder!" schimpfte der schlichte junge Mann, „hier hört
man ja weiter nichts als das Radio von Mittelmeier. Erst schmet-
tert das Liebeslied der Rosamunde herauf, daß man denkt, die Wände
fallen ein. Jetzt wieder „Lieber allen Wipfeln ist Ruh" so laut, daß
die Lampe wackelt und die Fensterscheiben klirren! Man ist über-
haupt nicht fähig, ein vernünftiges Wort miteinander zu sprechen.
Da weiß ich mir ein stilles Kind in einer stillen Stube, zu der werde
ich jetzt gehen. Ich bin zwar im Maschinensaal des Eisenstampf-
werkes angestellt, aber was zu viel ist, ist zu viel."
Unter dem Dach saß Urgroßvater. Urgroßvater hatte vor vier
Jahren das Gehör gänzlich verloren, nachdem er schon in früher
Jugend wegen grober Schwerhörigkeit Urgroßvater geworden war.
Urgroßvater ist also stocktaub. Wenn drei Schritte von Urgroßvaters
Zimmer eine Gasanstalt explodiert, sagt Urgroßvater: „Lerein."
Wenn man neben Urgroßvater eine schwere Kanone dreimal abge-
feuert hat, fragt Urgroßvater: „Sie will wohl heute nicht, die
Kanone?" So taub ist Urgroßvater. Leute aber ist er selig. Be-
geistert Pfeift er das Lied mit, das von zwei Stock tiefer von Mittel-
meiers Lautsprecher heraufdringt in seine Kammer. „Leise, leise —
fromme Weise-"
Mittelmeier saß am Radio. Ganz dicht dabei.
Er rückte den Lautsprecher hin und her. Drehte und schraubte.
Zog die Rückkoppelung. Verbesserte die Erdung. Verdoppelte die
Antenne. Verstärkte die Anode. Erhöhte die Leizung.
„Ich weiß nicht, was das heute wieder ist," stöhnte er nervös,
„so leise war der Lautsprecher noch nie!"
Siehe, das ist eine wahre Geschichte!
Sie ist in der Gartenstraße elf passiert. Sie ist mir passiert.
Sie ist dir passiert.
351
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Ein anderer Fischer"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1935
Entstehungsdatum (normiert)
1930 - 1940
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 182.1935, Nr. 4713, S. 351
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg