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Fliegende Blätter — 36.1862 (Nr. 861-886)

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Nr. 862
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https://doi.org/10.11588/diglit.3270#0015
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10

Scntimen'

und uns in einer primitiven Restauration niederlassend. Mein
Vater zog ein Buch hervor und las. Durch Hitze überwäl-
tigt entschlief er jedoch bald, und ich nahm dieses Buch zur
Hand. O dieses Buch! Leonie! dieses Buch! der unsterbliche
Titel dieses Buches war „Wischers kritische Gänge, Reisebeschreib-
ung nach Wien, über Wien nach Pesth, über Pesth und Venedig."
Leonie! als ich darin blätterte schwoll mein Herz von Patrio-
tismus, von Poesie! die Wunde von Solferino brannte schreck-
bar in meiner gefolterten Brust, ich hätte können, eine Jo-
hanna dÄre, hineinstürmen in das napolconische Söldlings-
heer und die Oriflamme des Constitntionalismnses bis an die
Marken der Erde tragen. Mein Vater erwachte, — ich ging
stumm an seiner Seite, saß stumm an seiner Seite, als wir
im Hotel zum Schiff Kalbsbraten aßen, legte mich stumm
ans den weichen Pfühl meines Nachtlagers, und war empört,
als mein Vater glaubte, mein Stnmmsein wäre das Zeichen
eines verdorbenen Magens, und der Kellnerin befahl, eine
Tasse Kamillenthce zu bringen.

Ich schlief diese Nacht über nicht. Ein Gedanke wurde
in mir lebendig, er wuchs empor und als ich sekundenlang
erschöpft die Augen schloß, erwachte ich als Schriftstellerin.
Ja! die Briefe der unsterblichen Amely Bölte standen klar
vor meinem trunkenen Geiste, Anna Löhn neigte sich über mich,
mir den Kuß der Liebe aufdrückend, und die göttliche Jda
reichte mir durch Wolken ihr Buch, die Bibel gläubiger See-
len, die hehre „Doralice!" Ich wusch mich schnell, hing mei-
nen Plaid nachlässig über die linke Schulter und trat an's
Fenster. O Leonie, dieses Fenster! An diesem Fenster ent-
puppte sich mein Innerstes, meine Seele stieg empor, wie ein
Seraph aus chaotischem Dunkel. „Auch ich will", sprach meine
Seele zu mir, „auch ich will die Feder zur Hand nehmen,
und im patriotisch-poetischen Schwünge meine Reise nach Wien
beschreiben." Und warum, o Leonie meiner Jugend, — warum
nicht? Weil ich ein Mädchen bin? Ist Amely Bölte kein
Mädchen? War Jda Gräfin zu Hahn keine Comtessc, und
ist eine Comtefse kein Mädchen? Von dieser Seite also war ich
beruhigt. Und ich heiße Fischer, zwar Fischer mit F, -aber den-
noch Fischer! Was einemVischer mit V gelingt, warum sollte das
nicht einem Fischer mit F gelingen? Und dabei ans meiner
Seite der Reiz der weiblicheü Anschauung. Ja, ich will eine
weibliche Reisebeschreibnng meinem Vaterlandc hinterlassen.
Endlich war auch noch der Stoff zu berücksichtigen. O Leonie
meiner Seele, — welch ein Stoff! Eisenbahn, Vaterland,
Donau, Nibelungen, Hochgebirge, Weingebirgc, Wien, Reichs-
rath, Modeartikel, Erzherzog Carl-Denkmal, historisch-poli-
tische Individualität, Prater, Concordat, Interpellation, Kunst,
böhmische Abgeordnete, Klinia, Vegetation, so Gott, Leonie,
seit ich hier weile erdrückt mich der zu bewältigende Stoff,)
Theater, Omnibusse, ungarische Adresse, Attentat ans den
König von Preußen, Gott ich kann nicht mehr!

Ich verspreche Dir, diesen mannigfaltigen Stoff ganz ob-
jectiv zu behandeln. Wie der bildende Künstler einen Mar-
morblock vor sich hinsetzt und daran meißelt, bis eine Venus
oder eine Madonna daraus wird, so will ich mir einen Stoff

ale Briefe.

»ach dem Andern vor das geistige Auge setzen, und mit mei-
ner jungfräulichen Feder daran arbeiten, bis etwas ganz Neues,
Originelles daraus entsteht. Ja, Leonie, ich fühle die Be-
gabung dazu. Die vollendete Erziehung im T'schen Pensionate
legte den Grund, mein Umgang mit Dir baute das Erdge-
schoß darauf, Gräfin Hahn-Hahn ward zum ersten Stocke,
und der poetisch-patriotische Schwung meiner Seele ward zum
schirmenden Dache. Au revoir ma petite, bald ein Weiteres
von Deiner

Laura Fischer.

Heute war ich wieder in einer Reichsrathssitzung. Meine
Seele ist so bewegt, — ich bin ganz centralistisch gesinnt, und
doch, — doch, Leonie, — Dr. Rieger ist so hübsch, er spricht
grob, aber genial, warum soll ein Böhme nicht für Böhmen
schwärmen, da Niemand anderer dafür schwärmt? Und Exal-
tation macht uns so leicht grob. Adion ma chfere! Neulich
war ich im Kärnthnerthortheater. Ich sah zum Erstenmale ein
Ballet. Ach es ist so sonderbar, wenn achtzig Personen, meist
Frauenzimmer, zugleich den Fuß in die Höhe heben! Doch
macht es einen patriotischen, nein einen poetischen, ästheti-
schen, will ich sagen, ja ästhetischen Eindruck, b'ars tbss
well, my dearest she-friend, always. Yours Lauretta.

Zweiter Brief.

Wien, Juli 1861.

Süße Freundin! Was habe ich Alles erlebt, gedacht,
empfunden, seit ich Dir zum letzten Male geschrieben! O
Leonie meiner Seele! Diese Seele fühlt sich empor gewir-
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Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Sentimentale Briefe"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

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Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Gebirge <Motiv>
Gepäck
Kutsche <Motiv>
Weibliche Reisende <Motiv>
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

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Künstler/Urheber (GND)
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Digitales Bild
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Fliegende Blätter, 36.1862, Nr. 862, S. 10

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