Der Menschenfeind. 123
Indessen es kam nicht. Der Nachmittag verstrich unter be-
ständig zunehmender Fröhlichkeit, und als die Gäste, lange
nachdem der Abend hereingebrochen war, an's Fortgehen
dachten, da war das Wort vom Gutskauf immer noch nicht
gesprochen. Die Pferde wurde,: vorgeführt, der Oberst be-
gleitete seine Gäste hinunter in den Schloßhof, sie schwangen
sich auf, und nach herzlichem Dank und Händedruck sagten
sie davon. „Auf Wiedersehen, Herr Oberst! Also morgen
kommen wir wieder!" riefen sie noch und verschwanden im
Dunkel.
Der Oberst schaute ihnen lange, lauge nach, auch als
er schon längst nicht mehr ihre fernen Hufschläge vernehmen
konnte, dann stieg er langsam die Treppe hinauf. Tausend
wirre Gedanken kreuzten sich in seinem Kopfe, bis er zuletzt
bei dem sehr vernünftigen Entschluß angelaugte, der alles
dieses Kopfzerbrechen abschnitt, für heute gar keine Lösung
des Räthsels zu versuchen, sondern seinem Kopf, der von
dem ungewohnten starken Weingenusse ziemlich schwer war,
die nöthige Ruhe zu schenken.
Als er am andern Morgen erwachte, war ihm bald
zweierlei klar, erstens, daß er in Beziehung auf die vor-
liegende Frage — und eö war eine Doppclfrage: Wie das
Geschehene erklären? und: Was weiter thun? — um kein
Haar gescheidtcr sei, als gestern Abend, und zweitens, daß er
in Folge des gestrigen Ercesseö einen salva venia Katzenjammer
habe. Letzteres war ihm entschieden ärgerlich. Denn ein
Katzenjammer ist zwar an und für sich selbst nicht Sünde,
wohl aber die Folge einer Sünde oder vielmehr deren sehr-
natürliche rurd sehr gerechte Strafe. Der Oberst aber war
allerdings ein Mann von strengen Grundsätzen, dem die
Strafe eben wegen der vorausgehenden Sünde zu Herzen
ging. Dazu hatte er in den letzten Zeiten, wie in der
Regcl die Menschenfeinde, mehr als mäßig gelebt, wovon
bic- Folge war, daß er die Schwachheit, deren er sich schämte,
auch noch doppelt zu büßen hatte. Jndeß, er hatte den
Katzenjammer einmal, und hatte ihn in seiner ganzen Stärke,
und so konnte er sich auch einer ganz cigenthümlichen- Wir-
kung, die dieser Zustand bei den meisten Menschen hat, nicht
entschlagen. Diese Wirkung besteht, wie jeder Erfahrene
weiß, und jeder Unerfahrene sicher erfahren wird, darin, daß
der Betreffende oder richtiger Betroffene einen merkwürdigen
Drang und Trieb in sich verspürt, die Wirkung durch die
Ursache zrr curiren oder, nachdem man A gesagt, auch B zu
sagen, den Trieb nämlich, der unangenehmen Morgenstimmung
durch ein Mittel zu begegnen, das demjenigen Ding, durch
welches jene hervorgebracht wurde, auf ein Haar gleich sieht.
So wünschte auch unser Oberst, allen seinen Grundsätzen
zum Trotz, nichts sehnlicher als eine frische, frohe Gesellschaft
bei sich zu haben, um durch sie über seine krankhafte», schwäch-
j lichcn Gefühle Meister zu werden, um nach Herzenslust über
den gestrigen Tag und seine Erlebnisse plaudern zu können,
und wohl auch, wenn >rch s gerade fügen sollte, dem ersten
Erccssc einen zweiten folgen zu lassen. Natürlich leitete ihn
dieser Wunsch dann zu dem andern über, gerade die munteren
Gäste von gestern wieder um sich zu haben, die eiugelcitctc
Genossenschaft mit ihnen weiter auszubildeu und vor allem
von ihnen sich darüber Auskunft zu verschaffen, wie denn der
gestrige Tag sich eigentlich zu dem Gutskauf verhalte, warum sic
von diesem, der sie doch allein hergeführt haben konnte, so gar
nichts hätten verlauten lassen. Aber wie? wird der Leser
fragen, wozu brauchte denn der Oberst die Gesellschaft von
gestern wieder herzuwünschen, wußte er denn nicht, daß sic
sich zu Mittag sicher wieder einfinden würde? Allerdings
hätte er das wissen sollen, aber das war eben auch eine
Folge des begangenen Ercesses, daß der Oberst gerade diesen
Punkt rein vergessen hatte. Die ganze Geschichte kam ihm
überhaupt wie ein Traum vor, wie ein Märchen aus tausend
und eine Nacht: er sah die Reiter aus dem Waldcsduukel
heranjagcn, sah seine eben noch so einsame Halle plötzlich
mit einem Schwarm jauchzender Gäste angefüüt, sah sic
jubeln und zechen bei dem strömenden Wein und zuletzt
wieder mit einem Mal in Nacht und Nebel verschwinden;
das war Alles so zauberisch, so märchenhaft, daß er Mühe
hatte, sich gewiß zu bleiben, Alles wirklich gesehen, wirklich
erlebt zu haben. Wie es im Einzelnen zugegangen war,
was man alles gethan und gesprochen hatte, war ihm ohne-
dem nicht recht klar erinnerlich, und jener letzte Ruf der
Scheidcnden: „Morgen kommen wir wieder!" war ihm
rein aus dem Gedächtnisse entschwunden. Hatte er doch
schon gestern Abend, als er ihn vernahm, seinen Ohren nicht
getraut, ob er wirklich recht gehört habe, was da aus dem
Dunkel ihm zugerufen worden war.
So brachte er denn den Vornrittag hin, so gut cs eben
ging, indem er einen Gegenstand der Unterhaltung nach dem
andern ergriff und wieder bei Seite warf. Nach dem Mittag-
essen aber fühlte er den Drang, einen Spaziergang in's Freie
zu machen, und der Zufall lenkte seine Schritte nach einem
entfernten Punkte seiner Besitzungen, den er noch nie ausge-
sucht hatte, obschon man von dort ans eine prachtvolle Fern-
sicht genießen sollte. Er war in jener milden, erwärmten
Stimmung, die dann einzutreten pflegt, wenn der überreizte
Magen sich wieder eingerichtet hat und, wie nach über-
standener Krankheit, die wieder zurückgekehrte Gesundheit sich
durch ein besonders klares Wonnegefühl ankündigt. Schon
im Hinausgehen, als er unter dem Laubdach überhqngendcr
Aeste gegen die Sonnenstrahlen geschützt und doch deren j
Wärme genießend, rings vom Waldgcruch umströmt, durch
die stille und dabei mit so unendlichem Leben erfüllte Natur
hinschritt, hatte er sich seine Gedanken gemacht, was er doch
für ein undankbarer Mensch sei, in dieser schönen Welt riicht
froh und zufrieden zu leben, nicht mit anderen fröhlichen
Menschen sich au allem Schönen, das Gottes liebe Erde
bietet, zu erfreuen und der ihm von allen Seiten so warm
und freundlich zuwinkenden Natur nicht auch ein vergnügtes
Gesicht, eine heitere Stirne zu zeigen.
(Fortsetzung folgt.)
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P
Indessen es kam nicht. Der Nachmittag verstrich unter be-
ständig zunehmender Fröhlichkeit, und als die Gäste, lange
nachdem der Abend hereingebrochen war, an's Fortgehen
dachten, da war das Wort vom Gutskauf immer noch nicht
gesprochen. Die Pferde wurde,: vorgeführt, der Oberst be-
gleitete seine Gäste hinunter in den Schloßhof, sie schwangen
sich auf, und nach herzlichem Dank und Händedruck sagten
sie davon. „Auf Wiedersehen, Herr Oberst! Also morgen
kommen wir wieder!" riefen sie noch und verschwanden im
Dunkel.
Der Oberst schaute ihnen lange, lauge nach, auch als
er schon längst nicht mehr ihre fernen Hufschläge vernehmen
konnte, dann stieg er langsam die Treppe hinauf. Tausend
wirre Gedanken kreuzten sich in seinem Kopfe, bis er zuletzt
bei dem sehr vernünftigen Entschluß angelaugte, der alles
dieses Kopfzerbrechen abschnitt, für heute gar keine Lösung
des Räthsels zu versuchen, sondern seinem Kopf, der von
dem ungewohnten starken Weingenusse ziemlich schwer war,
die nöthige Ruhe zu schenken.
Als er am andern Morgen erwachte, war ihm bald
zweierlei klar, erstens, daß er in Beziehung auf die vor-
liegende Frage — und eö war eine Doppclfrage: Wie das
Geschehene erklären? und: Was weiter thun? — um kein
Haar gescheidtcr sei, als gestern Abend, und zweitens, daß er
in Folge des gestrigen Ercesseö einen salva venia Katzenjammer
habe. Letzteres war ihm entschieden ärgerlich. Denn ein
Katzenjammer ist zwar an und für sich selbst nicht Sünde,
wohl aber die Folge einer Sünde oder vielmehr deren sehr-
natürliche rurd sehr gerechte Strafe. Der Oberst aber war
allerdings ein Mann von strengen Grundsätzen, dem die
Strafe eben wegen der vorausgehenden Sünde zu Herzen
ging. Dazu hatte er in den letzten Zeiten, wie in der
Regcl die Menschenfeinde, mehr als mäßig gelebt, wovon
bic- Folge war, daß er die Schwachheit, deren er sich schämte,
auch noch doppelt zu büßen hatte. Jndeß, er hatte den
Katzenjammer einmal, und hatte ihn in seiner ganzen Stärke,
und so konnte er sich auch einer ganz cigenthümlichen- Wir-
kung, die dieser Zustand bei den meisten Menschen hat, nicht
entschlagen. Diese Wirkung besteht, wie jeder Erfahrene
weiß, und jeder Unerfahrene sicher erfahren wird, darin, daß
der Betreffende oder richtiger Betroffene einen merkwürdigen
Drang und Trieb in sich verspürt, die Wirkung durch die
Ursache zrr curiren oder, nachdem man A gesagt, auch B zu
sagen, den Trieb nämlich, der unangenehmen Morgenstimmung
durch ein Mittel zu begegnen, das demjenigen Ding, durch
welches jene hervorgebracht wurde, auf ein Haar gleich sieht.
So wünschte auch unser Oberst, allen seinen Grundsätzen
zum Trotz, nichts sehnlicher als eine frische, frohe Gesellschaft
bei sich zu haben, um durch sie über seine krankhafte», schwäch-
j lichcn Gefühle Meister zu werden, um nach Herzenslust über
den gestrigen Tag und seine Erlebnisse plaudern zu können,
und wohl auch, wenn >rch s gerade fügen sollte, dem ersten
Erccssc einen zweiten folgen zu lassen. Natürlich leitete ihn
dieser Wunsch dann zu dem andern über, gerade die munteren
Gäste von gestern wieder um sich zu haben, die eiugelcitctc
Genossenschaft mit ihnen weiter auszubildeu und vor allem
von ihnen sich darüber Auskunft zu verschaffen, wie denn der
gestrige Tag sich eigentlich zu dem Gutskauf verhalte, warum sic
von diesem, der sie doch allein hergeführt haben konnte, so gar
nichts hätten verlauten lassen. Aber wie? wird der Leser
fragen, wozu brauchte denn der Oberst die Gesellschaft von
gestern wieder herzuwünschen, wußte er denn nicht, daß sic
sich zu Mittag sicher wieder einfinden würde? Allerdings
hätte er das wissen sollen, aber das war eben auch eine
Folge des begangenen Ercesses, daß der Oberst gerade diesen
Punkt rein vergessen hatte. Die ganze Geschichte kam ihm
überhaupt wie ein Traum vor, wie ein Märchen aus tausend
und eine Nacht: er sah die Reiter aus dem Waldcsduukel
heranjagcn, sah seine eben noch so einsame Halle plötzlich
mit einem Schwarm jauchzender Gäste angefüüt, sah sic
jubeln und zechen bei dem strömenden Wein und zuletzt
wieder mit einem Mal in Nacht und Nebel verschwinden;
das war Alles so zauberisch, so märchenhaft, daß er Mühe
hatte, sich gewiß zu bleiben, Alles wirklich gesehen, wirklich
erlebt zu haben. Wie es im Einzelnen zugegangen war,
was man alles gethan und gesprochen hatte, war ihm ohne-
dem nicht recht klar erinnerlich, und jener letzte Ruf der
Scheidcnden: „Morgen kommen wir wieder!" war ihm
rein aus dem Gedächtnisse entschwunden. Hatte er doch
schon gestern Abend, als er ihn vernahm, seinen Ohren nicht
getraut, ob er wirklich recht gehört habe, was da aus dem
Dunkel ihm zugerufen worden war.
So brachte er denn den Vornrittag hin, so gut cs eben
ging, indem er einen Gegenstand der Unterhaltung nach dem
andern ergriff und wieder bei Seite warf. Nach dem Mittag-
essen aber fühlte er den Drang, einen Spaziergang in's Freie
zu machen, und der Zufall lenkte seine Schritte nach einem
entfernten Punkte seiner Besitzungen, den er noch nie ausge-
sucht hatte, obschon man von dort ans eine prachtvolle Fern-
sicht genießen sollte. Er war in jener milden, erwärmten
Stimmung, die dann einzutreten pflegt, wenn der überreizte
Magen sich wieder eingerichtet hat und, wie nach über-
standener Krankheit, die wieder zurückgekehrte Gesundheit sich
durch ein besonders klares Wonnegefühl ankündigt. Schon
im Hinausgehen, als er unter dem Laubdach überhqngendcr
Aeste gegen die Sonnenstrahlen geschützt und doch deren j
Wärme genießend, rings vom Waldgcruch umströmt, durch
die stille und dabei mit so unendlichem Leben erfüllte Natur
hinschritt, hatte er sich seine Gedanken gemacht, was er doch
für ein undankbarer Mensch sei, in dieser schönen Welt riicht
froh und zufrieden zu leben, nicht mit anderen fröhlichen
Menschen sich au allem Schönen, das Gottes liebe Erde
bietet, zu erfreuen und der ihm von allen Seiten so warm
und freundlich zuwinkenden Natur nicht auch ein vergnügtes
Gesicht, eine heitere Stirne zu zeigen.
(Fortsetzung folgt.)
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