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Wohin
Körper stand gelähmt. — Da erschien seinen beinahe schwin-
delnden Sinnen die Lichtgestalt, wie in einen dunklen, goldenen
Rahmen eingefaßt, und das brachte ihn dem Irdischen zurück. —
Gold ist immer ein irdischer Magnet, man sollte deßhalb mehr
! auch in den Kirchen damit sparen.
Müller erkannte, daß der goldne Rahmen einen Spiegel
! umfaßte, der im dunklen Hintergründe nur seine eigene, vom
Mondlicht umflossene Gestalt reflektirte. Es war eine kurze
Nachwirkung der Lehren, die er in seiner Kindheit cingesogen,
die ihn erschreckte; die Aufklärung, die an Geistererscheinnngen
in goldenen Rahmen nicht mehr glaubt, war es, die ihn zur
Besinnung brachte. Weit entfernt davon sich selbst über seine
Erregbarkeit zu verspotten, fand er diese vielmehr ganz natür-
lich und ging gelassen und beruhigt in sein Schlafzimmer. Ihm
war heiß, er hatte etwas mehr als gewöhnlich getrunken, die
schwüle Sommernacht, dazu noch die eben jetzt gehabte Aufreg-
ung, bewogen ihn das Fenster zu öffnen, welches eine freie
Aussicht in lauter Gärten bot; denn das Hans des Hauptmanns
war das vorletzte im Orte, und das anstoßende letzte hatte
ebenfalls einen großen Garten. Nachdem sich Müller eine
kurze Weile in dem Anblicke der schönen Mondnacht erfrischt,
legte er sich in sein Bett, welches gegenüber dem Fenster stand,
! das er der Hitze wegen offen ließ. Auch die Thüre in den
! Salon mit dem großen Spiegel hatte er offen gelassen; er konnte
von seinem Bette aus den ganzen Raum überblicken, auf dessen
Fußboden sich mehrere, schwarzdunkle Kreuze in Hellem, weißen
Grunde zeigten; es waren die Fensterkreuze, die der Mondschein
wie Pargnets aus Ahorn und Ebenholz dahin zeichnete. Er
konnte nicht schlafen, eine melancholische, träumerische Stimmung
hatte sich seiner bemächtigt, und seine Blicke waren fortwährend
hinaus auf den Fußboden niit den reflektirten Fcnsterkreuzen
gerichtet. Um endlich nicht mehr Hinsehen zu müssen, wollte er
aufstehen und die Thüre zuschließen, da — was war das?!
Der Schatten einer Gestalt verdunkelte das von ihm entfernteste
Lichtbild am Fußboden, als ob Jemand hart an dem Fenster
vorüberginge. Das Schattenbild war bald wieder verschwunden.
Was konnte das sein? — Die Fenster waren doch im ersten
Stock, gingen auch auf keinen Balkon; die Gestalt, welche den
Schatten in das Zimmer warf, hätte also ganz in der Luft
schweben müssen. — Er hielt deßhalb das Ganze für eine
Sinnestäuschung, war jedoch nicht im Stande, seine Augen von
den fatalen Fcnsterkrenzen am Fußboden abzuwendcn; die Fenster
selbst konnte er von seinem Bette ans nicht sehen, — da erschien
wieder der Schatten auf dem zweiten, ihm näheren Lichtbilde!
Die Gestalt schritt also wirklich an den Fenstern in der Richtung
gegen sein Zimmer vorüber! — Jetzt wurde ihm etwas un-
heimlich zu Mnthe. — Die Gestalt mußte, wenn sie so fortschritt,
gleich an seinem eigenen, noch offenen Fenster erscheinen, und
trotzdem er sich frei von jeder Gcspensterfurcht fühlte, konnte er
doch keinen Entschluß fassen, und lag wie angekcttet in seinem
Bette, halb anfgerichtet, mit spannender Erwartung die Blicke
seinem Fenster znwcndend. Ein Stück weißes Gewand kam
zum Vorschein und gleich darauf stand die Gestalt klar und
deutlich vor ihm! Die Erscheinung hatte seine Sinne gelähmt;

ungsnoth.
Ueberraschung, Staunen, Angst kämpften in ihm mit dem Be-
streben sich zu ermannen. — Sie schien dicht vor seinem Fenster
in der Luft zu schweben. Es war ein Mädchen im leichten
Nachtgewande, mit rabenschwarzen Locken, die sich entfesselt über
ihre marmorbleichen, entblößten Schultern ringelten; ihre Augen,
obwohl fest geschlossen, schienen offen zu sein, weil ihre langen,
schwarzen Wimpern so tiefe Schatten warfen, die von dunklen,
fein geschnittenen Augenbrauen überwölbt, dem bleichen, zarten
Angesichte einen geisterhaften Ausdruck gaben. Müller kam
zum vollen Bewußtsein, er sah, daß in der reizenden Mädchen-
gestalt ihm eine Mondsüchtige erschienen, die ihren unheim-
lichen Weg außen ans dem Gesimse wandelte. Er war
tief ergriffen, Rathlosigkeit fesselte ihn, er konnte zu keinem
Entschlüsse kommen und so betrachtete er in banger Erwartung
die reizende Erscheinung, mit welcher die Natur eines ihrer
größten Geheimnisse vor seine Augen führte.
Wo bleibt der freie Wille des Menschen, wenn ein weit
entferntes Gestirn im Stande ist, ihn im Schlafe seinem Kreise
zu entführen, ihm in solchem Zustande eine Kraft zu verleihen,
die er im gewöhnlichen Leben nicht besitzt? — Und wenn das-
selbe eine solche Macht über die schlafenden Menschen hat,
— wer beweist dann, daß es nicht auch Einfluß auf den
wachenden übt? Wo bleibt dann der freie Wille? — Müller


hatte nicht Zeit, Reflexionen anzustellen, die Mondsüchtige setzte
ihren kleinen, entblößten Fuß auf das Fenster, und stieg herein;
Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Wohnungsnoth"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Spitzer, Emanuel
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Alle Rechte vorbehalten - Freier Zugang
Creditline
Fliegende Blätter, 59.1873, Nr. 1480, S. 170
 
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