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Eine Virtuosin.

wenn es schreie, so schreie es nicht unharmonisch wie andere
Säuglinge. Daß trotz dieser mütterlichen Versicherung das
Flennen Hulda's den Leuten nicht wie die Harmonie der
Sphären das Ohr erquickte, versteht sich von selbst.

Indessen die Zeit hat Flügel. Und was für Flügel!
Kaum hast du die erste Schwalbe begrüßt, die ihr altes Nest
unter dem Gesimse deines Daches wieder aufsucht, kaum hast
du die ersten Knospen an den Büschen gezählt: als die Frucht
schon unter der Gluth der Juli-Sonne reist; und kaum ist das
Lied des Winzers verhallt, als die Erde ihr buntes abgetragenes
Kleid wieder auszieht, sich schläfrig unter die Schneedecke ver-
kriecht und die Bäume ihre dürren Aeste vergebens nach einem
■ Sonnenstrahl ausstrecken. Ein Jahr, ein Fetzen vom Gewände
der Ewigkeit, wird wieder in die Rumpelkammer geworfen und
ein neuer Kalender wird an die Wand gehängt, um wie sein
vergilbter Vorgänger, der ihm eben den Platz abgetreten, ehe
man sich's ° versieht, wieder einem Nachfolger den Platz ciu-
zuräumen.

Die kleine Hulda wuchs unter der ausschließlichen Leitung
ihrer Mutter schnell heran, und diese unterließ nichts, was zur
Verbreitung ihrer Ucberzeugung beitragen konnte, daß ihr Töch-
terchen ein musikalisches Wunderkind sei. Das Wunderkind
stand im siebenten Jahre und konnte in der That schon vom
Blatte lesen; auch schlugen bereits ihre Fingcrchen auf den
elfenbeinernen Tasten sehr gewagte Purzelbäume. Allein das
Klavier ist ein ebenso gemeines als allgemeines Instrument.
Welches Kind wäre nicht heut zu Tage Pianist? Ja, es ist
vielleicht schwerer, einem Virtuosen auf dem Piano zuzuhören,
als ein Virtuos auf dem Piano zu sein. Da nun die kleine
Hulda nach der Ueberzeugung ihrer Mutter zu etwas Außer-
ordentlichem bestimmt war, so beschloß diese, daß ihr Töchterchen
dem Piano entsage und sich der Violine widmen sollte.

Schon nach zwei Jahren trat Hulda in einem Conzert als
Violinvirtuosin auf und erndtctc um so reichere Lorbeern, als
die Mutter zu verbreiten gewußt, daß die kleine Hulda nach
einem Unterricht von wenig Monaten das schwere Instrument
zu bewältigen verstanden. Der größte Theil des Publikums
setzte keinen Zweifel iu die Versicherungen der Mutter und die
Zweifler waren zu träge, zu gleichgültig, oder zu gutmüthig,
um ihren Zweifel laut werden zu lassen. Ueberhaupt unterließ
Frau Bretzel kein Mittel, lebhaftes Mitgefühl für sich selbst,
und für Hulda allgemeine Bewunderung zu erregen. Sie war
eine geborene Comödiantin. Ohne sich jemals auf den Brettern
versucht zu haben, welche die Welt bedeuten, wußte sie in der
Welt selbst sich in die verschiedensten, iu die widersprechend-
sten Rollen zu schicken. Sic that fromm mit den Fromme»,
katholisch mit den Katholiken, protestantisch mit den Protestanten,
bürgerlich mit den Bürgerlichen; und vor den Adeligen ver-
sicherte sic, daß sic selbst von adeligen Vätern abstamme, daß
aber ihr Großvater in Folge der schändlichen Umwälzung von
anno neun und achtzig dem Adel entsagt und in das Bürger-
thum hinuntergestiegeu.

Katholiken und Protestanten, Strenggläubige und Frei-
denker, Bürgerliche und Adelige unterstützten daher auf's reich-

lichste die Frau, die Jedem zu Willen sprach. Man sah iu
ihr die unglückliche Gattin und die vor keiner Mühe und Auf-
opferung zurückschreckende Mutter. Sie verfehlte auch nicht, bei
allen passenden und wohl auch bei unpassenden Gelegenheiten
sich mit ihrem Töchterchen in den Vordergrund zu drängen und
Aufmerksamkeit zu erwecken. Wenn irgend ein städtisches Freu-
denfest gegeben wurde, wie z. B. die Einweihung einer öffent-
lichen Anstalt, das Jubiläum eines hohen Beamten, der Ge-
burtstag des Landesvaters, oder der Landesmutter, oder des
hoffnungsvollen Thronfolgers: so stellte sich Frau Bretzel mit
ihrem Töchterchen ein, welches durch die Geige das Fest zu
verherrlichen suchte; und wurde zum Besten abgebrannter oder
überschwemmter Dorfschaftcu ein Fest veranstaltet, so ließ das
Wunderkind den Bogen auf der Geige tanzen und die Mutter
erndtete für dasselbe den Dank der gerührten Menschenliebe.

Das Wunderkind schoß immer mehr empor, und nach zu-
rückgelegtem fünfzehnten Geburtstag war cs bereits einen Kops
größer als die Mutter. Die Mutter ließ sich aber durch diese»
spargelhaften Wuchs nicht irre machen, und Hulda trug noch immer
lvic fast vor einem Jahrzehnt ei» kurzes Röckchen, das scho"
aufhörtc, wo die Knice anfangen, weiße Battisthöschc», die
kaum bis ans die Knöchel reichten, und ungenesteltes Haar, das
ihr über den Rücken hcrabivalltc und das sic, wenn sic sich vor
dem Publikum befand, nach jedem kühnen Bogenstrich gewaltig
schüttelte, um die Wirkung desselben zu erhöhen; denn >vic bc>
Simson wohnt auch seit Liszt bei den Virtuosen die Kraft >>'
den Haaren.

Die Menschen sind indessen gar sonderbare Geschöpfe. 'i”c
sind zwar sehr zum Wunderglauben geneigt und mau kann
Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Eine Virtuosin"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

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Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Tochter <Motiv>
Violinspiel
Kerze <Motiv>
Violine <Motiv>
Klavier <Motiv>
Musikalität
Blumenstrauß
Karikatur
Klaviermusik
Klavierspiel
Mutter <Motiv>
Lorbeerkranz
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

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Künstler/Urheber (GND)
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Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Alle Rechte vorbehalten - Freier Zugang
Creditline
Fliegende Blätter, 62.1875, Nr. 1553, S. 130
 
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