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Die St.-Stephanskirche in Wilhelmshaven-Fedderwarden — Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen, Band 1: Hameln: C.W. Niemeyer, 1980

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https://doi.org/10.11588/diglit.57438#0048
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noch deren Köpfe erkennbar um diese zur Eile anzutreiben. Ein anderer Teufel am
linken Rand des Darstellungsfeldes hält einen langen Spieß und weist mit der freien
Hand auf die Schrecken, die den verstockten Sünder am Tag des Gerichts erwarten -
damit die Kirchenbesucher in drastischer Weise in den szenischen Ablauf einbezie-
hend.
Das Motiv des Höllenschlundes tritt erst seit dem frühen 13. Jahrhundert im deut-
schen Kunstschaffen auf, und zwar zunächst als Bestandteil der Limbusszene. So ist
in Werken der sogenannten „thüringisch-sächsischen Malerschule“ (Elisabeth-Psal-
ter182), cod. Blankenburg 147183), Landgrafenpsalter184) ) ein von oben oder im Profil 135, 136
gesehener riesiger Tierrachen mit stumpfer Nase abgebildet, der die Verdammten ver-
schlingt. Haseloff185) führt ihn einerseits auf Vorbilder der englischen Buchmalerei
und Erbauungsliteratur zurück, wo Darstellungen der Hölle in dieser Form seit dem 152
10. Jahrhundert weit verbreitet waren186) und auch in der schwedischen und norwegi-
schen Kunst wirksam wurden187), andererseits auf Einflüsse der überaus qualitätvol-
len Tympanonplastik an französischen Kathedralen des 12. und 13. Jahrhunderts, de-
ren Höllenrachen wohl in Anlehnung an den Schlund des Leviathan entstanden188).
Obwohl diese Vorbilder vom deutschen Kunstschaffen erst seit dem frühen 13. Jahr-
hundert rezipiert wurden, waren Abbildungen des Höllenrachens bereits um 1300 ein
regelmäßiger Bestandteil von Darstellungen des Jüngsten Gerichts und Christi Höl-
lenfahrt.
Auch in der Monumentalmalerei wurde er schnell zu einem geläufigen Darstellungs-
mittel: Bereits im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts findet er sich in der Weltgerichts-
darstellung der Pfarrkirche zu Wormbach (Hochsauerlandkreis)189), später in den
Kirchen von Brechten (Dortmund) und Mark (Unna), zu Beginn des 14. Jahrhunderts 137, 153
im Nonnenchor des Klosters Wienhausen (Celle), dessen Gestaltungskraft die meck-
lenburgische Wandmalerei nachhaltig beeinflußte. Hier zeigen die Limbusszene in 139
Bernitt190) sowie der Höllenrachen in der Weltgerichtsdarstellung von Toitenwinkel, 147
der in ähnlicher Ausbildung dort auch in der Limbusszene erscheint, wo er allerdings 138
einen Teufel auf der Nase trägt - übrigens ein Motiv, das später in der westfälischen
Monumentalmalerei in Cappenberg (Unna)191) auftritt - eine bis in Einzelheiten ge- 141
hende Verwandtschaft mit der sächsischen Formenwelt. Sogar auf sächsischen Bild-
stickereien und Wandbehängen erscheinen seit der Wende zum 14. Jahrhundert Höl-
lenrachen, die trotz der recht schematischen Darstellungsweise die stilistischen Eigen-
heiten der „thüringisch-sächsischen Malerschule“ verraten192). Auch in Ostfriesland
selbst wurde vor kurzem in der Kirche zu Krummhörn-Pilsum (Aurich) an der Ost-
wand des Langhauses als Teil einer gotischen Gesamtausmalung, die freilich noch der
vollständigen Freilegung und kunstwissenschaftlichen Analyse bedarf, ein Höllenra-
chen entdeckt - um nur einige repräsentative Beispiele der in dichter Folge entstande-
nen Belegkette anzuführen, die indes wenig gestalterische Gemeinsamkeiten mit dem
Fedderwarder Höllenschlund aufweisen; was bei einem Motiv, das in so hohem Maße
zur phantasievollen Ausgestaltung reizen mußte, freilich nicht überraschen dürfte.
Dagegen scheint die Darstellung des Höllenrachens in cod. Blankenburg 147 aus der 135
Haseloff-Reihe193), die offenbar die Höllenszene in der Handschrift des Hamburger
Stadtrechts von 1292 maßgeblich beeinflußte194) - ein auf zwei kurzen Beinen stehen-
des riesiges Tiermaul im Profil, das in Gestalt eines Wolfsrachens auch auf einem Be-
hang des Brandenburger Doms (um 1290) in der Limbusszene erscheint195) - dem 140
Fedderwarder Höllenschlund in der allgemeinen Anlage weitgehend zu gleichen; ge-
wisse gestalterische Parallelen lassen sich ferner mit einer um 1350 in Neukirchen
(Ostholstein) unter westfälischem Einfluß entstandenen Limbusszene nachweisen, bei 142
der die Hölle gleichfalls als Wolfsrachen ausgebildet ist196). Doch auch hier gilt zu be-
achten: „Nie sind sich zwei Darstellungen völlig gleich, überall durchbricht der Indi-
vidualismus des Künstlers die überlieferten Schemen und bildet Neues“197).
So ist es nicht erstaunlich, daß auch das zweite bildprägende Einzelmotiv der Fedder-
warder Verdammungsszene, der Zug der Verurteilten zum Fegefeuer, in Auffassung
und Form nur eine allgemeine Wesensverwandtschaft zu gleichzeitigen Weltgerichts-

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