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Die Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbüttel — Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen, Band 4: Hameln: Verlag C.W. Niemeyer, 1987

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HÄRMEN THIES

26 Einheiten in ihrer Sonderung gegenüber dem Gan-
27 zen zu bestimmen und ihre Relationen zueinander
näher zu klären, heißt nicht nur, den Bau zu be-
schreiben, sondern gleichzeitig, seinen Aufbau
nach Anlage und Fügung besser erfassen zu lernen.
Im Vergleich mit anderen Architekturen, älteren,
gotischen ebenso wie gleichzeitigen des späten
16. und frühen 17. Jahrhunderts, läßt sich dann zei-
gen, daß hier ein eigenwilliger Architekt am Werk
war, der zu heftig kontrastierenden, ja „unverein-
baren“ Anordnungen seiner Einheiten und Teil-
figuren neigte und dennoch, ja gerade deswegen die
sinnenfällige Einheit dieser Architektur zu stiften
wußte. Ihre Qualität ist nicht zuletzt durch dieses
Paradoxon bestimmt.
Im Hinblick auf die städtebauliche Wirkung
mochte es ausreichen, vom lagernden Baukörper
der Kirche hier und ihrem ragend-eigenständigen
Turm dort zu reden. Tatsächlich jedoch sind wei-
tere Glied-Einheiten zu unterscheiden, die wesent-
lich zur Fügung, ja Organisation der Baugestalt
beitragen. Sie am Außenbau wie dann im Inneren
isolierend zu benennen heißt, das Architektur ge-
nerierende Gegeneinander und Miteinander dieser
Elemente sichtbar zu machen, die Weise, wie dieser
Bau „sich“ zu gliedern und Gestalt zu gewinnen
scheint.
Die lagernde Halle, über deren Binnenorganisa-
tion wir durch die Stellung des Turmes und die
Breite des Chorpolygons bereits in Grundzügen
unterrichtet sind, gibt sich nach Struktur und Auf-
17 bau wesentlich im Bereich ihrer fünf Langseiten-
joche zu erkennen. Die Jochteilung wird durch rah-
mende, weit und rechtwinklig, auf den Ecken (im
Westen) diagonal vortretende Strebepfeiler, die
ihre eigenen Fronten und Flanken ausbilden, und
durch je ein die Achse markierendes, von der Basis
23 bis zum Kopf des Kranzgebälkes reichendes,
schlankes Riesenfenster zur Anschauung gebracht.
Dennoch zeigt die Ausbildung von „Fuß“ und
„Kopf“ der Halle, daß diese auf ihrer Stirn- und
Schmalseite, im Westen, drei- und auf ihren Lang-
seiten fünfgeteilte Anlage als bauliche Einheit, als
27 ein Baukörper gesehen werden will. Der Turm er-
scheint dieser dreischiffigen und fünfachsigen
Halle „eingestellt“. Nur um das Maß einer Strebe-
pfeilerausladung tritt er im Westen aus dem in
hohen Wandungen geschlossenen Hallenkörper
vor. Östlich dieses dreischiffig-gerichteten, fünf-
jochigen Hallenbaus schließt offensichtlich ande-
res an. Hier legt sich ein Riegel quer vor das Ende
der Halle; entsprechend macht er — ausgezeichnet
und ausgerichtet durch Dach, Giebel und übereck
21 gestellte Strebepfeiler — Front nach Norden und
22 Süden. Allein seine nicht — wie in der Halle — in
einem, sondern als zweistufige Fensterfigur die
Wandhöhe ausspannenden Fenster zeigen, daß hier
tatsächlich ein „anderer“ Baukörper zu sehen ist.

Eng verwandt ist diesem „Querriegel“ der fünfsei-
tig-polygonal geschlossene Chorarm, der der brei-
ten Ostfront des „Querriegels“, einem großen
„Kapellenerker" vergleichbar, mittig vorgebaut er- 28
scheint.
Vier einfach geschnittene, raumhaltige Baukör- 27
per-Einheiten scheinen demnach nach Maßgabe ih-
rer Anordnung (Disposition) und wechselseitigen
Bindung (Komposition) das Ganze des Kirchenge-
bäudes zu konstituieren: der dreiachsig-fünfschif-
fige Hallenbau, der ihm „eingestellte“ Turm, der
quer vor die „Oststirn“ der Halle gesetzte Riegel
und schließlich die diesem vorgebaute Chorka-
pelle. „Hinzukommende“ Elemente — Strebepfei-
ler, Treppentürme, Giebel, Fenster, Portale usw. —
sind dieser Grundfügung großer Einheiten derart
zugeordnet und verbunden, daß sie — Kettenglie-
dern ähnlich — Einheit zwischen diesen distinkt
gesetzten, eigenständig konzipierten Elementar-
chitekturen zu stiften vermögen.
Bereits jetzt wird auffallen, daß den „hinzukom-
menden“ Elementen Strebepfeiler und Giebel ein
bedeutendes Gewicht beim Versammeln und Fü-
gen der vier „Grundeinheiten“ zur gegliedert-gan-
zen Architektur der Marienkirche zugemessen ist.
Wichtig ist die Frage, für welche der genannten
„Einheiten“ die Strebepfeiler bzw. die Giebel un-
abdingbar, ja konstitutiv sind. Ohne sonderliches
Zögern wird man für die Strebepfeiler den drei-
schiffig-fünfachsigen Hallenbau, für die Giebel
den quergestellten Riegel nennen. Die Strebepfeiler
sind für die Halle ebenso substantiell und kon-
struktiv notwendig wie sie zum Darstellen der
Schiffs- und Jochgliederung am Äußeren nicht
fortzudenken sind. Die „Einheit“ der aus GewöL 23
bejochen gefügten Kirchenhalle wird außen durch
die Folge der Strebepfeiler „sichtbar“ gemacht.
Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, daß die Strebe-
pfeiler knapp unter dem baukörperbildenden, von
der „Grundeinheit“ nicht zu trennenden Kranzge-
bälk einen eigenen Kopf ausbilden und so die rela-
tive Eigenständigkeit des primär Gesetzten (Halle)
und des sekundär Hinzukommenden (Strebepfei-
ler) auf das allerdeutlichste sichtbar machen.
Ganz anders verhält es sich mit den Giebeln. 21
Hier gilt es sich klarzumachen, daß Giebel „im 28
Prinzip“ auf die Stirnwand eines Gebäudes und vor
ein Satteldach gehören, dessen „offenen“ Quer-
schnitt sie ja erst zu schließen haben. Man braucht
nur an den langgestreckt-mächtigen Baukörper des
Braunschweiger Gewandhauses mit seinen zwei
stirnseitigen Giebelfronten zu erinnern, um das
„Prinzip“ derart gesichtsbildender Giebelarchitek-
turen zu begreifen. Einen ähnlich konzipierten, ge-
streckt-rechteckigen, ebenfalls unter ein gerichte-
tes Satteldach gestellten und demzufolge zwei
Stirnwände ausbildenden „Baukörper“ findet man
an der Marienkirche aber nur einmal: an der zuvor

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