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Die Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbüttel — Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen, Band 4: Hameln: Verlag C.W. Niemeyer, 1987

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ZU BAU UND ENTWURF

nen, erinnert sei an die Portal-Fenster-Figuren —
Elemente des Entwerfens und Bauens und ihr „Mi-
schen“ gemäß bestimmten Mischungsverhältnissen
blieb offensichtlich unabhängig von der Einzelent-
scheidung für diese oder jene Form dieser oder
jener Herkunft. Ja, es wird als ein Charakteri-
stikum der Architektur dieser Zeit, auch Franckes,
festgehalten werden können. Daraus folgt, zum an-
deren, daß viel weniger das Vorkommen oder Feh-
len einzelner Formen und Elemente — ihrer Art —
als vielmehr die Weise ihrer Anordnung und damit
die Methode des Entwerfens das konkrete Bild der
damaligen Architektur bestimmt hat.
Ob Francke ein „gotisches“ Detail, einen „goti-
schen“ Formenkomplex (das Stab- und Maßwerk
der Lanzettfenster etwa) aufgreift, oder aber For-
men und Elementfiguren der „Beschlagwerks-Re-
naissance“ niederländischer Prägung (die Seiten-
portale und Giebelfronten), dieses Was bleibt weni-
ger entscheidend für unser Urteil als das Wie ihres
„Einsatzes“. Denn weder die Gotik noch die Re-
naissance kamen als System zum Tragen, das „aus
sich“ diese oder jene Struktur gefordert und die
Wahl dieser oder jener Einzelform geregelt hätte.
Gerade weil die Architektur Franckes sich der Sy-
stematik und Geschlossenheit der Gotik ebenso
wie der „italienischen Renaissance“ entzieht, läßt
sie sich nach geläufigen Stilkriterien kaum fassen.
Andererseits ist festzuhalten, daß mit den Epo-
chen- und Stilbegriffen Gotik, Renaissance, Ma-
nierismus und Barock ja nicht allein Phänomene
klassifiziert, sondern gleichzeitig Prinzipien des
Entwerfens und Bildens ins Auge gefaßt und zur
Sprache gebracht werden, die sich nicht unmittel-
bar an ihren direkt faßlichen und beschreibbaren
Einzelformen — punktuell und nahsichtig gleich-
sam — zu erkennen geben. Sie fordern vielmehr, die
Genese, den Prozeß lebendigen Gestaltens rekon-
struierend und nachbildend, „subjektiv“ und aus
gegenwärtiger Ein-Sicht und Vor-Stellung zur An-
schauung und in das Denken zu bringen. Denn nur
so wird man einen zutreffenden Einblick in das be-
wußte Aufgreifen und mischend-fügende Um- und
Verformen der ohne dies nur isolierten „Elemente“
des Entwerfens und Bauens gewinnen können.
Den Prinzipien und Momenten des Entwurfspro-
zesses nachzugehen, ist angesichts dieser Architek-
tur sicher ergiebiger als das „objektive“ Bestimmen
und Ableiten von Einzelheiten.
Sicher ist, daß die so unterschiedlichen Einzel-
heiten dieser Architektur nicht als Komponenten
eines in sich geschlossenen, bis in seine Details
„Einheit“ demonstrierenden Formen-Systems ge-
sehen werden können. Im Gegenteil: die „Regel-
losigkeit“, mit der Elemente der Gotik und der Re-
naissance vermengt wurden, scheint einen epo-
chentypischen Grundzug, gleichzeitig Mangel, an-
zuzeigen. Eigenständigkeit, „Kreativität“ und die


60 Halle mit Emporen des Querriegels.

Kraft des Verdichtens nicht entlehnter Formen zu
geschlossener, einer Gestalt scheinen zu fehlen.
Wie Bauten jener Zeit nicht mehr gotisch, noch
nicht barock und allenfalls anders als eine Archi-
tektur der italienischen Renaissance zu nennen
sind, so entziehen sie sich auch einer eindeutigen,
als Stil zu fassenden und aufgrund ihrer eigenen
Prämissen „erklärbaren“ Systematik der Phäno-
mene. Dieses Fehlen eines verbindlich geregelten,
in sich abgeschlossenen Architektur-Systems hat
man seinerseits als die damals herrschende Regel
begreifen wollen: Manierismus.23'
Der Bau selbst lehrt freilich anderes. Von „ma-
nieristischer“ Regellosigkeit des Entwerfens, einem
In-Frage-Stellen oder gar Verkehren aller Regeln
kann keine Rede sein. Dies wäre nur möglich,
wenn man die miteinander unvereinbaren „Regel-
systeme“ der Gotik und Renaissance zum Maßstab
erklären wollte. Nur das eine, das andere oder
keins von beiden können gelten. Was hier domi-
niert, wird nicht schwer zu bestimmen sein. Denn
auch hinter dem Entwurf der Marienkirche steht
ein offensichtlich systematischer (weder gotischer
noch der italienischen Renaissance folgender)
Geist, der uns durchaus in die Lage versetzt, aus
den Eigenheiten der Disposition und Fügung er-
klärtermaßen heterogener Elemente und Formen
auf eine innere Gesetzmäßigkeit der Bildung zu
schließen, die sicher nicht „von außen“ an diesen
Bau herangetragen war, sondern — anders als jene
Elemente und Formen — als sein Eigenstes gelten
darf. Diese innere Gesetzmäßigkeit entzieht sich

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