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Die Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbüttel — Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen, Band 4: Hameln: Verlag C.W. Niemeyer, 1987

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WOLFGANG KELSCH

rische Umsetzung auf den Stein verfremdet und
nicht mehr deutbar. Der Manierismus ist gekenn-
zeichnet durch das Bestreben, die Grenzen realisti-
scher Wiedergabe und dämonischer oder mythi-
scher Überhöhung durch skurrile Verfremdung zu
vermischen. Diese Neigung zur Übersteigerung
und phantastischer Deformation wird durch die
Funktion der Quader als ornamentalem Schmuck
begünstigt. Am Chor der Hauptkirche BMV ist die
Vogelwelt dargestellt. Sie zeigt die Vielfalt der gött-
lichen Schöpfung, aber nicht als zoologisches
Lehrbuch. Wenn die Bildhauer aus dem naturwis-
senschaftlichen Wissen ihrer Zeit schöpfen, wur-
den sie zugleich durch emblematische Werke auf
die geheimen Sinnzusammenhänge des Kosmos
hingewiesen. Die Zoologie ist noch nicht Selbst-
zweck, sondern soll bei allem Bemühen um Natur-
erkenntnis die Welt als Imago dei, als Abbild Got-
tes erkennen und aufzeigen. Aufgabe der Wissen-
schaft ist es, diesen geheimen Sinn zu deuten.31’
Diesem großen Gesamt-Thema, das immer wieder
sichtbar wird, würde das Schema eines rationalen
Ordnungsprinzips nicht entsprechen, denn die
Grenzen zwischen himmlischer und irdischer
Welt, zwischen Mythos und Wissenschaft erschei-
nen fließend. Bei allem Hang zur gelehrten Wissen-
schaftsgläubigkeit, die für das 17. Jahrhundert cha-
rakteristisch ist, haben die mythischen Vorstellun-
gen vergangener Jahrhunderte sich in ihrer faszi-
nierenden Kraft unvermindert erhalten. In diesen
vielgestaltigen göttlichen Kosmos ist auch der
Mensch gestellt und erscheint auf den reliefierten
Quadern als ein Stück Natur: als fast archaische
Maske, in mythischer Überhöhung, aber auch in
fratzenhafter Verzerrung oder in realer Existenz als
Handwerker und Bürger mit offenkundigen An-
deutungen von Porträtähnlichkeit.
Der Bildschmuck des Chores der Hauptkirche
BMV steht — wie das gesamte Gebäude — in der
Tradition gotischer Baugesinnung und Bauformen.
Wenn die vielfältige Welt der göttlichen Schöpfung
in dem beigegebenen Bildschmuck aus der Weit-
sicht des Manierismus gesehen und künstlerisch
gestaltet wurde, so entsprach es dem Zeitgeist,
wenn mythische Vorstellungen sich mit den neuge-
wonnenen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen
verbanden. Da in der mittelalterlichen Scholastik
die Natur als ein für den Menschen geschaffenes
Mittel zur Erkenntnis gedeutet wird, als ein großes
Buch Gottes, das vom „Finger des Herrn (digitus
dei)“ aufgezeichnet ist, sieht der orthodox-lutheri-
sche Theologe Hermann Heinrich Frey in seinem
Biblisch Thierbuch aus dem Jahre 1595 die Welt
aus gleicher Sicht32-1 als Warnung und Vorbild zu-
gleich.
Die Natur ist gesprächig (natura loquax) und
wird in ihrer spirituellen Bedeutung erkannt mit
den symbolischen Bezügen, die man der Bibel oder

den christlichen Überlieferungen entnehmen kann.
Folgerichtig sieht Frey daher die Tierwelt ganz auf
den Menschen bezogen.33’ Bei aller Freude an den
neugewonnenen naturkundlichen Erkenntnissen
ist die scholastische Tradition im Protestantismus
erhalten. Der Zusammenklang empirischer Natur-
erkenntnis und mythischer Überlieferung, der sich
in dem Gesamtbau der Hauptkirche BMV in der
merkwürdigen Mischung von klarer Gesamtkon-
zeption und bewußter Inkonsequenz darstellt,34’
zeigt sich auch in den reliefierten Quadern des
Chors als ein Abbild der realen und mythischen
Welt, das den geheimen Plan des göttlichen Schöp-
fers dem offenbart, der die geheimen, dunklen
Sinnzusammenhänge über die Realitäten hinaus
erkennt. Aus der gleichen Sicht spricht der weit-
gereiste Sprachgelehrte und Forscher Adam Olea-
rius (1603 — 1671) von dem „Lehrmeister Gott, der
uns neben seinem geoffenbarten Worte das große
Wunderbuch der Welt mit den zwey großen Blet-
tern nemlich Himmel und Erde vorgeschrieben
hat“.35’
Als Abbild dieser Welt kann der reliefierte Qua-
derschmuck als eine bemerkenswerte und in seiner
Art einzigartige Leistung des deutschen Manieris-
mus gewertet werden. „Alle Kreatur der Welt ist
nur ein Spiegel“.36’

Anmerkungen
Dehio, Georg: Geschichte d. Dtsch. Kunst, 3. Bd., 1926,
S.249.
2-' Kunst, Hans-Joachim: Die Marienkirche in Wolfenbüttel
eine Siegeskirche? In: Daphnis, Ztschr. £. Mittlere Deutsche
Literatur, H. 4, Bd. 10, 1981, S. 27.
3) Thöne: Wolfenbüttel, S. 63; Hipp, Hermann: Studien zur
Nachgotik des 16. und 17. Jahrhunderts, Diss. Tübingen,
1979,S.1664/1665.
4) HDK Bremen—Niedersachsen, S. 991.
51 Reuther: Paul Francke, S. 347; Heinemann, Anke: Die Or-
namentik der Marienkirche in Wolfenbüttel (Magisterarbeit
Univ. Freiburg), 1982, S. 68 ff.
6) Reuther: Paul Francke, S. 347.
7) Spies: Hauptkirche, S. 44.
s> Grunsky: Marienkirche, S. 205; desgl. Spies: Hauptkirche,
S. 39/40.
9; Kelsch-Lange: Predigt der Steine, S. 82 — 84.
10) Kelsch-Lange: Predigt der Steine, S. 24/25. Für die alchemi-
stisch-rosenkreuzerischen Einflüsse; Lietzmann, Hilda: Der
Altar der Marienkirche in Wolfenbüttel, in: Niederdtsch.
Beiträge, Bd. 13,1974; Schwarzenfeld, Gertrude: Rudolf II.,
der saturnische Kaiser, 1961, sowie Allg. Dtsch. Biographie
und neue Dtsch. Biographie: Heinrich Julius. Über die Be-
deutung der Zahl Sieben in der Gedankenwelt der Alchemi-
sten; Slotta, Rainer: Martin Schaffners Bildertisch des
Asymus Stedelin, in: Der Anschnitt, Ztschr. f. Kunst u. Kul-
tur im Bergbau, 2/1982, 34. Jg., S. 61 ff.
Forsman: Säule und Ornament, S. 74.
12> Forsman: Säule und Ornament, S. 75.

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